Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
wieder auf. Und in diesem Moment erkannte Jessica den Wahnsinn
in ihren Augen, und sie wußte, daß Dr. Wilbert recht gehabt hatte und daß Evelin die Person war, die das Schweigen von Stanbury auf so grausige Art beendet hatte.
Im Bruchteil einer Sekunde traf sie die Entscheidung, den Versuch fortzuführen, in der Gestalt Phillip Bowens einen gemeinsamen Gegner herzustellen, denn dies würde sie und Evelin zu Verbündeten machen und vielleicht ihre einzige Chance sein.
»Diese Grasketten«, sagte sie, »die fabriziert er, wo er geht und steht. Er muß hier gewesen sein.«
Evelin sah mit glasigem Blick auf die Gräser in Jessicas Hand. »Er war immerzu hier.«
»Ja, aber das ist Wochen her. Das Gras müßte welk und tot sein. Diese Ketten sind frisch. Wenige Stunden alt.« Sie warf die Kette auf die Erde.
»Komm«, sagte sie beschwörend, »wir müssen sehen, daß wir wegkommen. Phillip ist gefährlich. Hast du alles gepackt? Hast du den Autoschlüssel? Soll ich fahren?«
Evelin rührte sich nicht von der Stelle.
»Evelin«, drängte Jessica, »bitte, wir sollten wirklich …«
»Kannst du das Baby schon fühlen?« fragte Evelin. Ihre Stimme klang vollkommen emotionslos. »Bewegt es sich schon?«
»Darüber sprechen wir, wenn wir im Dorf sind«, antwortete Jessica so leichthin wie möglich, »aber jetzt müssen wir weg, ehe Phillip Bowen plötzlich aufkreuzt. Bitte, Evelin, er kann wirklich noch ganz in der Nähe sein, und er ist zu allem fähig!«
»Ich habe mein Baby gespürt«, sagte Evelin. »Es hat gestrampelt. Es war lebendig.«
Jessica merkte, daß sie sie nicht mehr erreichte. Evelin war in einen Zustand abgeglitten, in dem es ihr völlig gleichgültig war, ob Jessica sie als Täterin entlarvte oder nicht. Alles war ihr gleichgültig.
Nur nicht die Erinnerung an ihr Baby.
»Vielleicht lag es ja an Tim, daß du später kein Baby mehr bekommen hast«, sagte Jessica, »aber es wird einen anderen Mann
in deinem Leben geben, und mit ihm wirst du Kinder haben, und …«
»Ich werde keine Kinder mehr haben«, sagte Evelin. Niemand hätte in ihrem Gesicht, in ihren Augen irgendeine Regung entdecken können. »Damals ist etwas kaputtgegangen. Für immer. «
»Was soll denn kaputtgegangen sein? Du hattest eine Fehlgeburt. Das ist schrecklich, aber viele Frauen erleben so etwas, und später werden sie trotzdem glückliche Mütter!«
In Evelins Blick trat eine Veränderung. Jessica hätte nicht sagen können, worin sie bestand. Vielleicht eine Spur von Leben. Eine Spur von Zorn.
»Viele Frauen erleben das?« Sie trat einen Schritt näher an Jessica heran. Sie roch scharf nach Schweiß. »Viele Frauen erleben das? Bist du sicher? Bist du sicher, daß es viele Frauen erleben, daß ihnen ihre Männer im sechsten Monat so heftig in den Bauch schlagen, daß sie fast verbluten und ihr Kind verlieren ?«
Sie war sehr laut geworden, und fast unheimlich wirkte danach die Stille, die von keinem anderen Geräusch unterbrochen wurde als dem Atmen der beiden Frauen.
»Es gab keinen Grund«, sagte Evelin. Sie sprach ganz monoton. Man hätte meinen können, nichts von dem, was sie sagte, berührte sie. Sie stand unbeweglich an derselben Stelle. »Es war nichts vorgefallen. Er kam nach Hause, es war ein früher Freitagabend, er war den ganzen Tag bei einem Seminar gewesen. Ich hatte ihn gar nicht gehört. Ich war im Kinderzimmer, sortierte Strampelanzüge in den Schrank. Es ging mir gut. Meine Schwangerschaft verlief problemlos, und ich freute mich unendlich auf mein Baby. Tim und ich und das Kleine würden eine richtige Familie sein. Und das Baby würde ganz zu mir gehören. Zum erstenmal in meinem Leben würde es einen Menschen geben, den ich als einen Teil von mir würde empfinden können.«
»Ich kann das gut verstehen«, sagte Jessica behutsam. Sie
fragte sich, wie gefährlich ihr Evelin werden konnte. Ihre anderen Opfer hatte sie von hinten angegriffen, hatte sie überrascht und daher ohne Probleme ausschalten können. Ein rascher Schnitt durch die Kehle …
Wie hatte Evelin das tun können?
Es war unfaßbar. Und doch, da sie nun in ihr Gesicht sah und in ihre Augen, hatte Jessica keinen Zweifel mehr an ihrer Schuld. Evelin war geisteskrank, auch wenn das über lange Strecken niemandem auffallen mochte, weil sich ihr Zustand zumeist als schwere Depression tarnte. Vielleicht war sie normal gewesen bis zu dem Tag, an dem sie ihr Baby verloren hatte, aber Jessica bezweifelte es. Nach allem, was sie über
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