Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Scheu vielleicht, die er gerade ihr gegenüber empfand. Jessica war eine Frau, die ihn beeindruckt hatte, die ihm imponierte. Ihre sachliche Art, ihre Klarheit, ihr wacher Verstand. Ihre Fähigkeit, hinter den schönen Schein zu blicken, sich Tatsachen zu stellen. Während der wenigen Treffen mit ihr - die ihm jedoch äußerst intensiv erschienen waren - hatte er begriffen, daß sie nicht glücklich war, daß sie sich eine andere Art von Leben mit ihrem Mann vorgestellt hatte, daß sie jedoch nicht bereit war, ihre Lebensumstände vor sich selbst zu beschönigen. Selbst dann nicht, wenn am Ende die Erkenntnis stehen würde, daß ihre Ehe gescheitert war.
Er mochte sie. Er hatte manchmal überlegt, daß es schön gewesen wäre, sie anders kennenzulernen. Nicht so, als Frau eines anderen, im Haus seines Vaters lebend, in dem Haus, das er hatte haben, um das er hatte kämpfen wollen. Die Situation hatte kaum das Entstehen einer persönlichen Beziehung zwischen ihnen beiden zugelassen. Er stellte sich einen Frühlingsabend in
London vor, einen jener Abende, in denen Blütenduft und der Geruch nach feuchter Erde selbst in einer Großstadt die Vorherrschaft übernehmen: Sie beide in einer Kneipe, draußen ein lichtblauer Abendhimmel, drinnen eine sehnsüchtige Musik und ein gelangweilter Barkeeper, und jeder Mensch, der durch die Tür kam, brachte einen Hauch dieses einzigartigen Geruchs von draußen mit. Sie tranken Weißwein und spürten, daß etwas begann, das, wie es auch ausgehen mochte, für immer eine wesentliche Erinnerung in ihrem Leben sein würde.
Aber so hatte es nicht sein sollen, und sosehr es ihn drängte, ihr seine Gedanken mitzuteilen, rief er sich doch zur Ordnung und sagte sich, daß dies nur alles komplizieren würde. Die Londoner Kneipe an einem blütenschweren Frühlingsabend gab es nicht. Sie waren in Yorkshire. Auf die eine oder andere Art war jeder von ihnen Teil eines furchtbaren Verbrechens, Teil einer Tragödie, die nur Mißtrauen und Angst hervorgebracht hatte. Es würde kein unbefangenes Zusammen-Weitergehen geben. Keine Kneipe, keinen Weißwein, kein Versinken in den Augen des anderen, kein Versprechen von Zukunft. Die Wirklichkeit sah alles andere als romantisch aus: Er wurde im ganzen Land polizeilich gesucht und versteckte sich in einem feuchten, dunklen Kellereingang, und sie kauerte im Gras und las irgend etwas, das in einem Zusammenhang mit ihrem toten Mann stehen mochte und das sie - soviel hatte er jedenfalls ihrer Körpersprache zu entnehmen gemeint - sehr in seinen Bann zog und zugleich beunruhigte. Und irgendwo mußte auch noch Evelin sein, diese dicke, traurige Frau, die unter Garantie hysterisch würde, wenn sie ihn erblickte.
Er hatte irgendwann bemerkt, daß Jessica ihren Platz verlassen hatte und verschwunden war, aber er war sicher, daß er noch immer nicht den Motor des Autos gehört hatte. Er fluchte erneut.
Was taten die beiden hier so lange?
Vorsichtig stieg er die Treppe hinauf und spähte in den Garten.
Still und leer lag er unter der heißen Sonne. Wenn es ihm gelänge, ungesehen den Wald zu erreichen, konnte er einen Bogen um das Haus herum schlagen und …
Seine Gedanken endeten jäh.
Er sah Jessica.
Sie saß in der Sonne, auf der etwas baufälligen, hölzernen Bank, auf der er selbst etwa zwei Stunden vorher noch gesessen und gegrübelt hatte, und … ja, sie starrte angestrengt und völlig fasziniert auf den Boden zu ihren Füßen. Und was immer sie dort sehen mochte, es lenkte sie für den Augenblick völlig von allem ab, was um sie herum geschah. Aber die Frage war, ob dies ausreichen würde, um ihn bis über die Wiese kommen zu lassen, und gerade, als er sich dies fragte, schaute sie auf.
Er wich blitzschnell zurück. Er war fast sicher, daß sie ihn nicht bemerkt hatte.
16
Als Jessica die Schritte hinter sich hörte, sagte sie, ohne sich umzudrehen: »Evelin, wir sollten sehen, daß wir von hier wegkommen. Ich glaube«, sie senkte ihre Stimme, »daß sich Phillip Bowen in der Nähe aufhält.«
»Phillip Bowen?« fragte Evelin zurück. Ihre Worte kamen ein wenig schleppend.
Jessica beugte sich nach vorn, nahm eine der Grasketten in ihre Hände. Sie stand auf, wandte sich zu Evelin um.
Der warme Wind fächelte um ihr Gesicht, wirbelte sanft in ihren Haaren. Er drückte ihr weites, weißes T-Shirt gegen ihren Bauch.
Jessica sah, wohin Evelins Blick fiel. Für einen Moment zeichnete sich der ganz leicht gewölbte Leib deutlich ab. Evelin blickte
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