Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Problem, mit diesem dir fremden Arzt darüber zu sprechen. Aber deine Freunde! Patricia, Leon, Alexander. Damals gehörte auch Elena noch dazu! Warum hast du mit keinem von ihnen gesprochen?«
Evelins leerer Blick füllte sich mit einer Art Staunen.
»Aber sie wußten es doch«, sagte sie.
Jessica vergaß für einen Moment ihre Angst, so perplex und fassungslos war sie. »Du hast es ihnen gesagt? Und sie haben nichts unternommen?«
»Ich mußte es ihnen nicht sagen. In den Tagen nach der Operation besuchten sie mich der Reihe nach im Krankenhaus, und bei jedem einzelnen von ihnen konnte ich sehen und fühlen, daß er Bescheid wußte. Sie faselten von einem tragischen Unglück und konnten mir dabei nicht in die Augen schauen. Sie waren so
verlegen … mein Gott, nie habe ich eine Ansammlung derartig verlegener und schuldbewußter Menschen erlebt! Alexander wand sich wie ein Wurm, zerrissen zwischen seinem Gefühl für Moral und seiner Feigheit, und wie üblich siegte die Feigheit. Patricia redete ohne Unterbrechung, sie schnatterte das Problem einfach weg, und sie redete wahrhaftig nichts als Scheiße ! Leon brachte mir den größten Blumenstrauß, den ich je gesehen hatte, und sagte, ich würde aber wirklich schon wieder gut aussehen, dabei hatte er mich kaum eines Blickes gewürdigt. Dann begann er mit der Krankenschwester zu flirten, als sie hereinkam, und meinte anschließend augenzwinkernd, er werde besser nicht mehr kommen, das sei ja gefährlich hier mit so vielen hübschen Mädchen. Elena erschien überhaupt nicht. Ihre Ehe mit Alexander steckte bereits in der Krise, und wahrscheinlich wollte sie nicht alles schlimmer machen, indem sie sich in mein Unglück einmischte. Und Patricias Kinder malten mir, auf Anweisung ihrer Mutter vermutlich, Bilder mit Buntstiften. Blumen und Vögel und blauer Himmel, und darunter stand irgendein Zeug wie: Werde bald wieder gesund, liebe Tante Evelin! Ich hätte kotzen mögen. Es war wie immer, und wie immer hieß es: Es war nichts passiert. Evelin hatte einfach wieder einmal Pech gehabt. Ich stolperte ja ohnehin ständig und fiel über meine eigenen Füße. Diesmal hatte meine Ungeschicklichkeit eben eine dramatische Dimension angenommen. Man verdrängte es und ging zur Tagesordnung über.«
»Evelin, mir tut das alles sehr leid«, sagte Jessica, »und ich schwöre dir, daß ich nichts davon gewußt habe. Ich wußte nichts von deinem Martyrium.«
Evelin sah sie höhnisch an. »Und wie hast du dir das dann erklärt? Meine ständigen Verletzungen? Erinnerst du dich an die letzten Tage hier? Wie ich herumgehumpelt bin und vor Schmerzen im Fuß fast nicht auftreten konnte? Was dachtest du da?«
Jessica hob hilflos die Schultern. »Ich dachte, es stimmt, was du gesagt hattest. Eine Überanstrengung beim Joggen.«
»Ja, weil die fette Evelin eben untauglich ist für jede Art von Sport, nicht wahr? Du dachtest, was muß dieses Nilpferd denn auch unbedingt joggen! Stimmt’s? Hast du das gedacht?«
»Nein. Ich habe nie abfällig von dir gedacht. Ich habe gemerkt, daß du depressiv bist, und vielleicht hätte ich viel mehr insistieren müssen, dich drängen, dich zwingen , daß du dich mir anvertraust. Ich weiß nicht, warum ich es nicht getan habe. Ich begann ja erst langsam zu merken, daß in dieser Clique etwas nicht stimmte, und das schuf Probleme zwischen mir und Alexander, und wahrscheinlich war ich mit diesen Problemen einfach zu sehr beschäftigt. Aber«, sie sah Evelin an, schüttelte, noch immer voller Verwunderung, langsam den Kopf, »du kannst dich nicht von aller Mitschuld freisprechen, Evelin. Du hast auch nichts gesagt. Du warst wie sie. Du hast genauso geschwiegen. «
Evelins Blick glitt wieder ins Leere, wich Jessicas Vorwurf aus.
Nicht, dachte Jessica entsetzt, tauch nicht wieder weg!
Ein Instinkt sagte ihr, daß Evelin zu lenken war, wenn sie in der Realität weilte, wenn sie ihr Gegenüber bewußt wahrnahm. Und daß sie gefährlich wurde, wenn sich diese völlige Leere über ihren Zügen ausbreitete.
»Du hast alles getan, Tim zu schützen«, sagte sie hastig und eindringlich, »und auch wenn die anderen alle Bescheid wußten, so war ihnen vielleicht nicht klar, daß du Hilfe haben wolltest! Du hast jede Lüge mitgetragen. Unfall beim Joggen, Mißgeschick beim Tennis, gegen einen Schrank gerannt, Treppe hinuntergestürzt. Du hast dich an heißen Tagen in dicke Rollkragenpullover gesteckt, weil vermutlich blaue Flecken an deinem Hals waren, die keiner
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