Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
jedoch nicht den Eindruck, daß es sich um einen Mann handelte, der normalerweise adrett herumlief und sich nur im Urlaub ein wenig lockerer gab. Irgend etwas verlieh ihm die Ausstrahlung von Armut und von einer beginnenden Verwahrlosung, die ihn auch im Inneren schon ergriffen hatte. Vielleicht war es der Ausdruck seines Gesichts, seiner Augen. Dieser Mann lebte schon lange ein gutes Stück jenseits des normalen, bürgerlichen Lebens.
»Ich heiße Jessica Wahlberg«, sagte sie, »und ich lebe in München. «
»Sie verbringen seit Jahren jeden Urlaub hier, nicht?«
Sie war überrascht. »Woher wissen Sie das?«
»Man erzählte es im Dorf.«
»Wir sind eine Gruppe von Freunden. Die anderen sind seit Jahren hier. Ich nicht. Ich gehöre erst seit einem Jahr dazu.«
Der kleine Hund hob den Kopf, stellte sich dann mühsam auf seine noch wackligen Beine und schüttelte sich kräftig. Die Wassertropfen stoben nur so aus seinem Fell und trafen Jessica und Phillip an all den Stellen, die bislang noch trocken geblieben waren.
»Ich glaube«, sagte Jessica, »ich sollte jetzt schnell nach Hause gehen. Ich werde sonst wirklich noch krank.« Sie sah den kleinen Hund an, der sich, vertrauensvoll dicht an sie gedrängt, wieder ins Gras legte. »Ich frage mich, wie der kleine Kerl ins Wasser fallen konnte!«
»Vielleicht ist er gar nicht gefallen«, meinte Phillip, »vielleicht
hat ihn jemand hineingeworfen. Ich nehme an, hier ist es so, wie überall auf dem Land: Die Bauern entledigen sich des unerwünschten Nachwuchses auf eine sehr brutale Art.«
»Man sollte das mit ihnen auch so machen«, sagte Jessica wütend, »damit sie wissen, wie sich Ertrinken anfühlt! Zum Glück scheint er’s ja ganz gut überstanden zu haben.«
»Was machen wir jetzt mit ihm?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Wollen Sie ihn haben?«
Phillip hob abwehrend beide Hände. »O Gott, nein! Sie müßten das Loch sehen, in dem ich in London hause. Ich fürchte, ich dürfte da gar keinen Hund halten!«
»Also nehme ich ihn mit. Wir können ihn ja nicht einfach hier sitzen lassen.«
»Nein. Aber man könnte ihn in ein Tierheim bringen.«
Als wüßte der Hund, daß es um sein Schicksal ging, hob er wieder den Kopf. Er sah Jessica und Phillip aus sehr ernsten, großen Augen an und wedelte zaghaft mit dem Schwanz.
»Nein«, entschied Jessica, »Tierheim kommt nicht in Frage. Er bleibt bei mir. Es ist schließlich kein Zufall, daß wir einander begegnet sind.«
»Nein?«
»Nein. Ich glaube nicht an Zufälle.«
Er lächelte amüsiert. »Ein interessanter Gedanke. Dann ist unsere Begegnung aber auch kein Zufall.«
Jessica erhob sich, klopfte Gras und Erde von ihrer Hose und nahm dann den kleinen Hund auf den Arm. Er schien inzwischen sicher, daß ihm nichts geschehen würde, denn er wehrte sich nicht, sondern kuschelte sich zurecht und seufzte zufrieden.
»Wir machen uns jetzt auf den Heimweg«, sagte Jessica, ohne auf Phillips letzte Bemerkung einzugehen. Mit angewidertem Gesichtsausdruck schlüpfte sie in ihre Schuhe, die dabei vor Nässe leise quietschten. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Mr. Bowen. Kommen Sie doch mal bei uns vorbei und besuchen Sie den Kleinen. «
»Das werde ich sicher tun«, versprach Phillip. Er war ebenfalls aufgestanden.
Der Wind wehte ihm die Haare ins Gesicht. »Ja«, wiederholte er, »ganz sicher.«
Jessica hatte den Eindruck, daß in seinen letzten Worten ein Unterton mitgeschwungen hatte.
Auf dem Heimweg vergaß sie jedoch, darüber nachzudenken.
7
Ricardas Tagebuch
15. April . Es ist etwas Wundervolles geschehen!
Ich habe Keith getroffen! Heute abend im Dorf. Ich bin wieder nicht zum Abendessen gegangen, weil es mir wirklich total stinkt, mit dieser falschen Truppe zusammenzusitzen. Immer machen sie auf gute Laune und auf Was-mögen-wir-uns-doch-alle-so-sehr, und nichts davon stimmt. Rein gar nichts!
(Papa macht Ärger. Wenn ich morgen nicht zum Abendessen da bin, wird er ungemütlich, hat er gesagt! Aber mit Drohungen kriegt er mich schon gar nicht klein!)
Ich bin zu Fuß ins Dorf gegangen. Da läuft man gut eine halbe Stunde. Evelin, die Arme, Dicke, jammert immer über den weiten Weg, aber mir macht er nichts aus. Ich bin gut trainiert. Inzwischen finde ich es super, daß Mama nie lockergelassen hat mit meinem Sportprogramm. Vor allem Basketball macht mir richtig Spaß. Und ich hab eine echt tolle Kondition!
Ich hab mich im Dorf auf so einen Blumenkübel vor dem Gemischtwarenladen gesetzt, denn da
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