Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
erwärmt? Es ist ja kein Zufall, wen wir uns als Partner aussuchen. Und selbst wenn es uns Probleme bereitet ... Ich weiß, daß Alexander unter Elenas Verhalten gelitten hat. Dennoch ...« Er sah sie an, und sie wußte, was er hatte sagen wollen.
»Du meinst, ich bin wie Elena. Und er wird unter mir auch wieder leiden?«
»Ich frage mich, ob eure Ehe funktionieren wird«, antwortete Tim freundlich, und als Jessica hörbar nach Luft schnappte, fragte er sachlich: »Was hast du eben empfunden bei meinen Worten?«
Es gelang ihr, sich rasch zu fassen. »Wir sind hier nicht in einer Therapiestunde, Tim«, sagte sie kalt, »und ich bin nicht deine Patientin. Ich möchte mit dir nicht über meine Ehe sprechen. Weder jetzt noch irgendwann später.«
Das Leuchten in seinen Augen, das so seltsam sanft und eindringlich zugleich war, erlosch. Sein Blick wurde kühl.
»Begriffen«, sagte er. »Aber komm nachher nicht zu mir, wenn es Probleme gibt. Ich werde dann nämlich auch keine Lust mehr haben, mit dir darüber zu reden.«
Sie merkte erst nach einer Weile, daß sie viel schneller lief als sonst. Sie hatte sich so sehr über Tim aufgeregt, daß sie losgestürmt war, als könne sie dadurch den Beklemmungen entfliehen, die sie verspürte. Irgendwann ging ihr Atem keuchend, sie hatte Seitenstechen, und ihr fiel ein, daß es für das kleine Wesen, das in ihrem Bauch wuchs, nicht gut sein konnte, wenn sie sich derart verausgabte. Ihr war heiß; ihr Pullover klebte am Rücken, und ihre Haare waren im Nacken naß von Schweiß. Sie zog ihre Jacke aus und band sie um ihre Hüften. Erstmals, seitdem sie losgelaufen war, schaute sie sich um.
Für gewöhnlich umrundete sie den großen Park, der zu Stanbury gehörte, in einem weitläufigen Bogen. Es gab verschiedene Wege, die zum größten Teil über baumlose Hochebenen führten, auf denen Heidekraut wuchs und Schafe weideten. Sie kannte sie alle inzwischen, war sie viele Male gegangen. Heute mußte sie an irgendeiner Stelle abgekommen sein, denn den Platz, an dem sie sich nun befand, hatte sie vorher nie gesehen. Sie befand sich auf einer kleinen Anhöhe, und vor ihr breiteten sich, sanft abfallend, grüne Weiden aus, durchzogen von niedrigen steinernen Mauern. Im Schatten der Bäume grasten Kühe. Ein Bach plätscherte durch das idyllische Tal. Irgendwo in der Ferne konnte sie das leise Tuckern eines Traktors hören. Der Himmel war blau, durchzogen von ein paar weißen, gerupften Wölkchen. Die Sonne schien fast sommerlich heiß - oder kam ihr das nur so vor, weil sie so wild gehastet war?
Sie atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen, setzte sich dann ins hohe Gras. Schloß für einen Moment die Augen. Ein leiser, tröstlicher Wind umfächelte ihre Stirn.
Es ist alles in Ordnung. Es gibt keinen Grund, sich aufzuregen.
Tim hatte es geschafft, sie zu verstören, und sie fragte sich, wie ihm das hatte gelingen können. Er war so gewesen wie immer: Tim, der Therapeut, der stets zu intensiv war, zu engagiert. Grenzüberschreitend in seiner Absicht, jedem Gutes zu tun, ob
der es nun wollte oder nicht. Tim mit seinen sanften Augen, den etwas zu langen Haaren, dem Vollbart, den Gesundheitsschuhen.
Tim, den sie nie hatte leiden können.
Sie hatte es sich zuvor nie erlaubt, diesen Gedanken zu denken, aber nun war es einfach geschehen, und sie empfand es als befreiend, sich nicht länger etwas vormachen zu müssen.
Ich kann Tim nicht leiden. Ganz einfach!
Alexander hatte kaum je über seine Ehe mit Elena gesprochen, aber einige Male hatte er erwähnt, ein Problem habe darin bestanden, daß Elena seinen engen Freunden Leon und Tim so kritisch gegenüberstand. »Über Leon lästerte sie oft. Und Tim mochte sie, glaube ich, gar nicht.«
Es war offensichtlich gewesen, daß Alexander darunter gelitten hatte, und fast zwangsläufig hatte Jessica sofort beschlossen, Leon und Tim und deren Frauen zu mögen und gut mit ihnen zurechtzukommen. Sie hatte alles verdrängt, was sich an störenden Stimmen in ihr Unterbewußtsein geschlichen hatte, weil sie um keinen Preis ein Problem kreieren wollte. Sie hatte den gemeinsamen Ferien zugestimmt und den vielen gemeinsamen Aktivitäten, die sie daheim unternahmen, sie war fröhlich und unkompliziert gewesen und hatte immer wieder betont, wie schön sie es fand, nicht nur einen Mann, sondern gleich einen ganzen Freundeskreis geheiratet zu haben.
Doch wenn sie ehrlich war, mochte sie nicht nur Tim nicht, sondern genausowenig Patricia.
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