Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
kaschieren kann, wie fett sie inzwischen ist, aber natürlich gelingt das nicht. Obwohl, eigentlich mag ich Evelin. Sie ist nett, und sie tut mir verdammt leid. Sie ist verzweifelt, und von ihren sogenannten Freunden merkt das keiner. (Oder es will keiner merken.) Sie drehte sofort um, als sie mich sah, und verschwand wieder in der Küche, und wahrscheinlich hoffte sie, ich hätte sie nicht gesehen. Ich hörte sie schniefen und wußte, sie hat sich mal wieder heulend an den Kühlschrank geflüchtet. Sie tut mir wirklich leid, gerade jetzt, weil ich so glücklich bin, und eigentlich möchte ich im Moment auch, daß alle anderen glücklich sind! (Außer Patricia und J.)
Ich bin die Treppe hinaufgeschlichen, und offenbar hat Papa mich nicht gehört, jedenfalls schoß er nicht auf den Gang heraus. Ich war heilfroh, als ich in meinem Zimmer war. Ich sitze jetzt
hier, in meine Bettdecke gewickelt, während ich schreibe, und das Fenster habe ich ganz weit geöffnet, weil diese Nacht so herrlich riecht. Noch nie habe ich den Frühling so sehr gefühlt, so sehr empfunden.
Ich liebe Keith. Ich freue mich so sehr auf morgen!
8
Der kleine Hund wurde Barney genannt und war am nächsten Tag der Star des Hauses. Jessica hatte ihn am Vortag gleich mit hinauf in ihr Zimmer genommen, ihn dort abgetrocknet und gefüttert und ihn zunächst niemandem gezeigt. Alexander war nicht dagewesen, als sie zurückkam, und sie hatte zuerst mit ihm wegen des neuen Familienmitglieds sprechen wollen, ehe die anderen etwas davon bemerken sollten. Zum Frühstück präsentierte Jessica ihren Findling und erntete - je nach Einstellung der Anwesenden - die verschiedensten Reaktionen.
Diane und Sophie waren begeistert. Patricia erkundigte sich indigniert, ob der junge Hund stubenrein sei. Evelin sagte sofort, sie hätte auch gerne wieder einen Hund, aber das ärgerliche Kopfschütteln, das sie dafür von Tim erntete, ließ sie verstummen. Leon streichelte Barney mit abwesender Miene; er schien in eigene Gedanken oder sogar Sorgen verstrickt zu sein und nahm wohl nicht wirklich wahr, was um ihn herum passierte. Ricarda, die mit fast schlafwandlerischer Miene zu spät zum Frühstück erschien, wirkte im ersten Moment entzückt, knipste jedoch ihr Lächeln sofort aus, als ihr klarwurde, daß es Jessica war, die den Hund mitgebracht hatte.
»Wir unterhalten uns nach dem Frühstück«, sagte Alexander, »und zwar sehr eingehend. Ich möchte nicht, daß du noch einmal zu einer Mahlzeit nicht erscheinst und die halbe Nacht fortbleibst. «
Ricarda sank in sich zusammen, kauerte sich an ihren Platz, sprach kein Wort mehr und rührte keinen Bissen an.
»Vielleicht«, wandte sich Alexander an Jessica, »solltest du bei der Unterredung dabeisein.«
Jessica sah den Haß aus Ricardas Augen blitzen und schüttelte unbehaglich den Kopf. »Das ist eine Sache zwischen euch beiden. Ich mache in der Zwischenzeit lieber einen Spaziergang mit Barney. «
Der Ferientag plätscherte dahin. Jessica litt unter Übelkeit, die sich allerdings nach einem dreistündigen Lauf mit Barney beruhigt hatte. Patricia fuhr mit ihren Töchtern zum Reiten, diesmal ohne Evelin, die sich mit Kopfschmerzen entschuldigte und in ihr Zimmer zurückzog. Leon und Tim saßen im Garten; Jessica sah sie, als sie zurückkehrte. Leon redete und redete, und Tims Miene war finster, und genau wie am Tag der Ankunft dachte sie: Da stimmt etwas nicht. Irgend etwas ist zwischen den beiden nicht in Ordnung.
Zum Mittagessen tauchte Ricarda nicht auf. Alexander ging hinauf in ihr Zimmer, doch das war leer. Als er zurückkehrte, sah er müde aus und älter, als er war.
»Sie ist nicht da«, sagte er.
»Und das läßt du dir bieten?« schoß Patricia ihn sofort an. »Ich denke, du hast heute früh mit ihr geredet!«
» Mit ihr reden kann man das eigentlich nicht nennen«, erklärte Alexander. »Ich habe geredet, und sie hat geschwiegen. Sie wollte nicht sagen, wo sie gestern abend war, sie wollte nicht sagen, weshalb sie sich so zurückzieht. Sie mochte nicht über ihre Probleme sprechen - nichts. Ich hätte genausogut eine Wand vor mir haben können.«
»Dann schließ sie in ihr Zimmer ein, bis sie den Mund aufmacht«, sagte Patricia.
Jessica, die vor ihrem unberührten Teller saß und schon wieder mit Übelkeit kämpfte, mischte sich ein. »Mit Druck erreicht man da doch gar nichts. Sie ist fünfzehn, sie geht ihre eigenen Wege, und das ist normal.«
»Ich habe euch das schon mal gesagt: Sie treibt
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