Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Und die kichernden Teenager Diane und Sophie auch nicht. Eigentlich ließ sie nur Leon und Evelin gelten.
Schöner Mist, dachte sie, öffnete die Augen und blinzelte in die strahlende Sonne.
Sie verdankte es Tim und Evelin, daß sie Alexander kennengelernt hatte. Daheim in München hatte sie nicht weit von dem Ehepaar entfernt gewohnt, ohne daß man je Kontakt gehabt hätte. Manchmal hatte sie Evelin gesehen, wenn diese gerade
zum Einkaufsbummel aufbrach, in ihren eleganten Kleidern und meist mit einer schicken Sonnenbrille im Gesicht, und sie hatte sie für eine völlig uninteressante Frau gehalten, die sich mit dem Geld ihres Mannes ein gutes Leben machte. Manchmal hatte sie auch Patienten von Tim gesehen, die ihn in seiner Praxis im Souterrain des Hauses aufsuchten. Nichts an Tim und Evelin hätte sie jedoch gereizt, mit den beiden in irgendeine Art von Verbindung zu treten.
Evelin hatte einen sehr schönen, schließlich sehr alten Schäferhund besessen, mit dem sie jedoch nie in Jessicas Praxis gewesen war. Wie sich später herausstellte, suchte sie stets einen Nobeltierarzt auf, der jedoch in der Nacht, in der es mit dem Hund zu Ende ging, nicht erreichbar war. Evelin entsann sich, daß einige Häuser von ihr entfernt eine junge Tierärztin wohnte, und rief bei Jessica an. Es war zwei Uhr morgens, als diese kam und den alten Hund mit einer Spritze erlöste. Evelin war zutiefst dankbar und lud Jessica eine Woche später zum Abendessen ein. Ebenfalls anwesend war Alexander, den Evelin als »einen engen Freund der Familie« vorstellte. Alexander lebte gerade in Scheidung, wirkte tief melancholisch und sprach den ganzen Abend über fast kein Wort. Jessica hätte nie im Leben vermutet, daß er sich für sie interessierte, aber ein paar Tage danach rief er sie an und verabredete sich mit ihr in einem Restaurant. Sie erfuhr, daß er Professor für Geschichte war und eine Tochter hatte, die aber nun bei der Mutter lebte, draußen am Starnberger See, also durchaus in der Nähe, aber ihm kam es vor, als sei das am anderen Ende Deutschlands.
Sie trafen einander wieder und wieder, und irgendwann heirateten sie, ohne großen Aufwand und ohne viel Aufhebens, in einer Art stiller, selbstverständlicher Übereinstimmung. Ihre ganze Liebesgeschichte war sehr ruhig verlaufen, ohne Kämpfe, ohne Streitereien, ohne das berühmte Zusammenraufen, das die meisten Paare, die Jessica kannte, zu irgendeinem Zeitpunkt hatten durchstehen müssen.
Vielleicht fehlte ihnen ein Stück Leidenschaft, doch Jessica war weit davon entfernt, diese zu vermissen. Sie hatte andere Beziehungen gehabt, in denen es bewegter zuging, und diese hatten immer ein äußerst schmerzhaftes Ende gefunden. Sie war dreiunddreißig Jahre alt und hatte die Phase, in der sie ihr Leben in erster Linie als spannend und aufregend empfinden wollte, hinter sich. An Alexanders Seite genoß sie ein ruhiges und sicheres Glück. Es war genau das, was sie für ihr Leben haben wollte.
Einige seiner Freunde mochten lästig sein, aber sie hatte nicht den Eindruck, daß daraus ein ernsthaftes Problem für sie beide erwachsen würde.
Erneut ließ sie ihren Blick über das Tal zu ihren Füßen schweifen. In einiger Entfernung erspähte sie einen einsamen Wanderer, der an blühenden Apfelbäumen entlangging. Bienen und Hummeln brummten durch die seidige Luft. Sie verspürte plötzlich Lust, ihre Schuhe auszuziehen und ihre Füße im klaren Wasser des Bachs zu kühlen. Langsam stieg sie den steilen Hang hinab, als etwas in dem sprudelnden Wasser plötzlich ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie blieb stehen und schaute genauer hin. Um ein paar Felsbrocken herum bildeten sich schäumende Wirbel, und dazwischen schien etwas festzuhängen, irgend etwas Dunkles … Es wurde vom Wasser hin und her geworfen ... oder aber ... Es bewegte sich selbst, zappelte, kämpfte …
Jessica rannte nun den Hang hinunter, wäre einmal beinahe gestolpert, fing sich aber gerade noch. Sie erreichte das Ufer und erkannte zu ihrem Entsetzen einen kleinen, schwarzen Hund, der sich verzweifelt mühte, den Kopf über Wasser zu halten und einen der Felsen zu erklimmen. Offensichtlich hatten sich seine Hinterbeine in irgend etwas verfangen, und seine Kräfte schienen ihn bereits zu verlassen.
Jessica verzichtete darauf, ihre Schuhe auszuziehen und watete, wie sie war, in den Bach hinein. Das Wasser reichte ihr über die Knöchel und war viel kälter, als sie erwartet hatte. Zudem erwiesen sich die Steine auf dem
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