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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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herausgeholt hatte, und sie mochte jetzt nicht daran denken. Sie mochte eigentlich nie daran denken, auch wenn Dr. Wilbert immer wieder sagte, es sei wichtig für sie, diese Dinge nicht zu verdrängen.
    Er hatte, wie sie fand, leicht reden.
    Jedenfalls erinnerte sie die Küche auf Stanbury an die Küche von früher, auch wenn es keine Gartentür gab, aber sie war ebenso altertümlich und unpraktisch, und Evelin fühlte sich dort wohl. In München, in ihrem schicken Designerhaus, hatten sie natürlich eine Küche, die ins Wohnzimmer integriert war, mit einer Theke, an der man essen konnte, und alles war sehr funktional
und elegant, aber sie mochte sie nicht. Sie konnte kein Nestgefühl darin entwickeln.
    Sie begann, ziellos ein wenig hin und her zu gehen, da und dort etwas geradezurücken; sie fegte ein paar Brotkrümel vom Tisch, spülte einen liegengebliebenen Löffel ab, hängte die Geschirrtücher gerade hin und wußte dabei die ganze Zeit, daß es sich um Ablenkungsmanöver handelte. Es diente der Beruhigung ihres Gewissens; sie hätte sich geschämt, sofort zum Kühlschrank zu stürzen, wollte das Öffnen der magischen Tür vor sich selbst wie eine zufällige Handlung aussehen lassen. Denn dies hatte sich entscheidend verändert im Vergleich zu früher: Heute ging es durchaus ums Essen.
    Jessica hatte am Abend gekocht, sie hatte einen herrlichen Auflauf aus Broccoli in einer Käsesahnesoße gemacht, und da sie zu spät erfahren hatte, daß Patricia und Leon nicht mitessen würden, war die Portion zu groß gewesen, und es war einiges übriggeblieben. Evelin, die sich bei Tisch zurückgehalten hatte, war den ganzen Abend über beherrscht gewesen von dem Gedanken an die Reste, auch wenn sie gemeint hatte, an andere Dinge zu denken. Sie hatte gewußt, daß sie in der Küche landen und sich einen Nachschlag holen würde …
    Sie öffnete die Kühlschranktür.
    Da stand die Auflaufform, abgedeckt mit einem Teller, sie nahm sie heraus, holte sich einen Löffel, setzte sich an den Tisch und begann zu essen. Der Auflauf war eiskalt, doch das störte sie nicht. Sie wärmte sich die Mahlzeiten, die sie außer der Reihe aß, nie auf, ebensowenig wie sie sich die Zeit nahm, sich einen Teller zu holen oder etwas zu trinken. Häufig schnitt sie einfach Brotscheiben ab, kauerte sich in die geöffnete Kühlschranktür, pulte mit den Fingern Streichkäse aus der Packung und schob ihn sich abwechselnd mit dem Brot in den Mund. Angelte dazwischen eine Gewürzgurke aus dem Glas oder rollte eine Scheibe Schinken zusammen und schluckte sie gierig hinunter. Es ging nicht darum, es sich schön zu machen, es ging nicht um gepflegtes
Genießen, so wie Tim es manchmal zelebrierte, wenn er einen ganzen Abend lang mit ein paar Käsehäppchen, Weintrauben und einem Glas Rotwein verbrachte und sich dabei ungeheuer wohl fühlte. Evelins Genuß war von anderer Art. Sie füllte sich auf, füllte und füllte und füllte, spürte, wie die Leere immer kleiner wurde und Wärme und Behagen sich in ihrem Bauch ausbreiteten und langsam ganz und gar Besitz von ihr ergriffen.
    »Es ist das einzige Mittel, die Traurigkeit abzufangen, wenn sie kommt«, hatte sie zu Doktor Wilbert gesagt. »Es geht mir gut dabei. Es geht mir auch eine kleine Weile danach noch gut.«
    Doktor Wilbert schob ihre Eßsucht auf den Verlust des Babys, und tatsächlich hatte es danach angefangen.
    »Sie schaffen es nicht, diesen Verlust zu verwinden. Seitdem ist diese Leere in Ihrem Leben, von der Sie immer sagen, Sie könnten sie kaum ertragen. Indem Sie Ihren Bauch füllen, füllen Sie den Ort, an dem das Baby war - nicht exakt anatomisch natürlich, aber die Stellen liegen dicht beieinander.«
    Sie hatte noch nie danach freiwilliges Erbrechen herbeigeführt, auch wenn sie sich schämte und unglücklich war über ihre Figur. Sie hätte die Nahrung, die sie sich zugeführt hatte, nicht von selbst wieder hergegeben.
    Auch jetzt ging es ihr besser, nachdem sie das Gemisch aus Gemüse, Sahne und Käse in sich hineingeschaufelt hatte, und sie lehnte sich mit einem Seufzen in ihrem Stuhl zurück. Alles in ihr entspannte sich, obwohl der kalte Käse als schwerer Klumpen in ihrem Magen lag. Sie ging noch einmal zum Kühschrank, aß ein Stück Salami und löffelte zum krönenden Abschluß ironischerweise zwei Becher Magerjoghurt von Patricia, mit deren Hilfe diese ihre blendende Figur bewahrte.
    Es würde alles gut werden, alles in Ordnung kommen.
    Sie setzte sich wieder an den Tisch und

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