Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
nicht klar.«
Er strich sich die wirren Haare zurück. Jessica musterte seinen Pullover, seine Hosen, dieselben abgetragenen Sachen, die er gestern und vorgestern angehabt hatte. Sein ganzes Äußeres verriet Armut. Ganz sicher konnte er das Erbe seines verstorbenen Vaters dringender brauchen als Patricia. Wenn … ja, wenn Kevin McGowan tatsächlich sein Vater gewesen war.
»Und Sie sind ganz sicher«, fragte sie vorsichtig, »daß Ihre Mutter … nun, daß sie trotz ihrer schweren Krankheit klar genug war, um …«
Jetzt stahl sich ein Ausdruck der Verachtung in seine Miene. »Sie reden wie Geraldine. Mit der Leier kommt sie mir auch immer. Wissen Sie, meine Mutter hatte während ihrer Krankheit bessere und schlechtere Phasen, jedenfalls bis Oktober, als es nur noch bergab ging. Das ist so bei Krebs. In den schlechten Phasen schluckte sie starke Schmerzmittel, und da kam es durchaus vor, daß sie durcheinander war, Menschen und Zeitabläufe in ihrem Leben nicht auf die Reihe brachte. In den guten Phasen nahm sie
keine Medikamente, denn gerade vor dieser Verwirrtheit hatte sie größere Angst als vor den Schmerzen. Und für mich als Zuhörer war absolut erkennbar, ob sie klar war im Kopf oder nicht. Insofern kann ich alles, was sie sagte, sehr genau einordnen.«
Jessica hatte den Eindruck, ihn verärgert zu haben, dennoch stellte sie ihm ihre nächste Frage. »Und Ihre Mutter war ganz sicher, daß Kevin McGowan Ihr Vater ist?«
Im ersten Moment begriff er nicht und sah sie stirnrunzelnd an, aber dann plötzlich ging ihm auf, was sie gesagt hatte, und von einem Moment zum nächsten wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Er war jetzt bleich wie der Tod, und Jessica bereute ihr Vorpreschen. »Was ich sagen will …«, begann sie, aber er unterbrach sie mit scharfer Stimme: »Ich habe durchaus verstanden, was Sie sagen wollten! Sie meinen, es kann schließlich sein, daß meine Mutter ein wenig in der Gegend herumgevögelt hat und dann selbst nicht so genau wußte, wer der Vater ihres Bastards war!« Er stand auf und blickte zornig auf sie hinunter. »Und wenn man das nicht weiß, dann gibt man natürlich ganz gern einen prominenten Namen an, noch dazu, wenn der Betreffende tot ist und ein hübsches Erbe hinterlassen hat!«
Jessica stand ebenfalls auf. Sie wollte die Hand auf Phillips Arm legen, doch Phillip wich zurück, und sie griff ins Leere.
»Phillip«, bat sie, doch er warf ihr nur noch einen letzten wütenden Blick zu, drehte sich um und stapfte den Abhang hinunter, und an der Haltung seiner Schultern, an seinem Gang konnte sie erkennen, wie sehr sie ihn gekränkt hatte. Sie hatte das nicht beabsichtigt, und es tat ihr leid, aber ganz offensichtlich war im Augenblick nicht mit ihm zu reden.
Sie rief Barney, der eifrig herangaloppiert kam, und machte sich auf den Heimweg.
11
Ricardas Tagebuch
19. April . Früher war mein Vater mein bester Freund, aber jetzt ist alles anders. Ich spüre genau, daß er sich gar nicht mehr für mein Leben interessiert. Er fragt mich nur aus, weil er hofft, er erfährt etwas und kann dann seine Macht zeigen. Aber ich sage ihm nichts von Keith. Bestimmt würde er sofort behaupten, ich bin zu jung für so was!
Mama hat mal gesagt, daß er abhängig ist von seinen Freunden und daß sie das nicht mehr ausgehalten hat. Ich war total wütend, weil ich nicht wollte, daß sie schlecht über ihn redet. Aber jetzt glaube ich, daß sie recht hat. Es ist so komisch, in diesen Ferien steht alles ganz deutlich vor mir. Früher haben sie mich einfach alle genervt, aber irgendwie kannte ich es eben nicht anders, und ich habe gar nicht soviel nachgedacht. Aber jetzt bin ich kein Kind mehr. Ich merke, wie verlogen sie sind, und daß nichts stimmt, gar nichts! Von wegen: beste Freunde!
Patricia lästert über die dicke Evelin, kaum daß die den Raum verläßt, und Tim ist total zerstritten mit Leon. Ich habe sie gestern gehört. Leider wurde mir nicht klar, worum es geht, aber Tim war absolut unangenehm, und Leon war richtig eingeschüchtert. Und dann beim Abendessen tun sie so, als wäre alles in Ordnung. Ich finde das so lächerlich.
Ich sehe Keith jetzt jeden Tag. Oft sitzen wir in seiner Scheune und quatschen stundenlang, über alles, was uns so beschäftigt. Ich hab noch nie mit jemandem so toll reden können. Wenn ich Keith erzähle, wie ich mich fühle, so mit meinen Eltern und der Scheidung und mit J. und den anderen, dann hört er ganz aufmerksam zu, und dann sagt er etwas, woran ich
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