Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
ganz genau merke, er hat verstanden, was wichtig ist. Er ist der erste
Mensch, der mich versteht. Manchmal liegen wir auf dem Sofa, das er dort stehen hat, ganz eng umschlungen. Ich fühle mich dann so geborgen, endlich wieder. Die Wolle von seinem Pullover kratzt ganz leicht in meinem Gesicht, und ich spüre, wie sein Herz schlägt. Er riecht so gut, und er fühlt sich so schön an.
Ich kann mir nicht denken, daß ich jemals wieder jemanden so lieben werde wie ihn!
Keith hat auch eine Menge Probleme. Er findet keine Lehrstelle, und er sagt, die ganze Gegend sei überhaupt schwierig mit Arbeit und so. Er möchte Stukkateur werden und dann am liebsten später mal in den schönen, reichen Häusern in London arbeiten. Er will unbedingt mit etwas Künstlerischem sein Geld verdienen, sagt er. Er malt sehr gern. Gestern, als er mich abgeholt hat, hat er Barney gesehen, und ich habe ihm gesagt, daß ich Barney so toll finde, es aber nie zeigen will, weil J. sonst glaubt, sie besitzt etwas, womit sie mich an die Angel kriegt. Heute hat er mir eine Zeichnung geschenkt, die er von Barney gemacht hat, einfach so, aus dem Gedächtnis. Und er hat ihn genau getroffen! Man erkennt sofort sein lustiges Gesicht und die komischen, viel zu großen Ohren. Keith hat ihn nur ganz kurz gesehen, aber ihm ist alles aufgefallen, was wesentlich ist, und er hat es sich gemerkt. Deshalb bin ich ganz sicher, daß er großes künstlerisches Talent hat, und ich sage ihm immer, er soll nicht aufgeben, irgendwann wird er in dem Beruf arbeiten, den er sich so wünscht.
Sein Vater macht ihm natürlich Schwierigkeiten deswegen. Keiths Eltern haben eine Farm, und Keith soll sie übernehmen. In den Augen des Vaters ist Stukkateur kein Beruf, sondern ein Schwachsinn, sagt Keith. Er hat noch eine ältere Schwester, die arbeitet auf der Farm, aber der Vater hat Angst, daß sie irgendwann heiratet und dann weggeht. Keith hat erzählt, daß sein Vater ihn morgens oft mit den Worten begrüßt: »Na, du Penner. Mit welcher Art von Nichtstun willst du heute den Tag verbringen? « Keith sagt, ihm tut das so weh. Und ganz bestimmt tut es mir noch mehr weh!!! Am liebsten würde ich zu seinem Vater gehen
und ihm sagen, wie schlimm ich ihn finde, und daß er nie mehr wird gutmachen können, was er seinem Sohn antut. Aber Keith meint, das würde seinen Vater gar nicht interessieren, und außerdem würde ich für ihn selbst damit alles nur noch schwerer machen.
Aber ich hoffe, daß ich Keith Kraft geben kann.
Er gibt sie mir ja auch.
12
Evelin lauschte ins Treppenhaus hinunter. Kein Laut war zu hören, obwohl es noch gar nicht so spät am Abend war. Kurz nach zehn Uhr, und nichts rührte sich.
Ostermontag. Am gestrigen Ostersonntag hatten sie eine große Schokoladeneiersuche im Garten veranstaltet, aber die meisten Eier hatte Barney, Jessicas Hund, gefunden und sofort samt Stanniolpapier verspeist. Später hatten sie auf der Terrasse zu Mittag gegessen, nachmittags gab es Kaffee und Kuchen, abends Champagner. Der Tag war schön gewesen, alle hatten sich Mühe gegeben, es hatte eine entspannte, friedliche Stimmung geherrscht. Die bis in diesen Montag hineingereicht hatte. Tim hatte fast den ganzen Tag am Laptop gearbeitet, und Patricia hatte für sich und die Kinder Pferde gemietet und war mit ihnen ausgeritten. Sie selbst, Evelin, hatte gelesen und zwischendurch ein paar Ostereier genascht.
Aber der Abend … nun, er kam ihr eigenartig vor. Es hatte damit begonnen, daß Leon und Patricia zum Essen weggefahren waren, alleine, was sonst praktisch nie vorkam. Nicht einmal die Kinder hatten sie mitgenommen, und das mußte wirklich als Sensation gewertet werden. Patricia hatte sich gesträubt, soviel hatten die anderen mitbekommen, aber Leon hatte auf seinem Vorschlag bestanden, und er hatte plötzlich einen für ihn so
ungewöhnlich autoritären Ton angeschlagen, daß Patricia ihn nur noch erstaunt angestarrt und nicht mehr widersprochen hatte.
Zum Abendessen war Ricarda nicht erschienen, was allerdings nichts Neues war, und Alexander hatte mit Sorgenfalten dagesessen, düster in seinen Teller gestarrt und fast nichts angerührt. Es war sehr still am Tisch gewesen; ohne den Schutzwall ihrer Eltern hatten selbst Diane und Sophie zu kichern aufgehört. Tim war schlecht gelaunt gewesen, vielleicht überarbeitet, und Jessica schien in eigene Gedanken versunken. Wirklich wohl zu fühlen schien sich nur der kleine Barney. Er lag ausgestreckt mitten auf dem Teppich,
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