Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
für ihrer beider Ehe: das Leben, den Alltag, jedes Geschehnis nach der Schuldfrage einzuordnen. Wer hatte was zu verantworten?
»Wir beide«, sagte er, ohne ihre Frage abzuwarten, »wir beide waren damals dafür, daß ich mich selbständig mache. Ich hatte darauf hingewiesen, daß es schwierig werden könnte, aber du meintest, ich schaffe das schon. Und …« Er hob abwehrend die Hand, als er sah, wie sie den Mund zum Protest öffnete. »Bitte, keinen Streit! Ich will dir, weiß Gott, nicht die Verantwortung zuschieben. Ich wollte gerade hinzufügen: Und ich war froh, daß du mein Selbstvertrauen gestärkt hast. Denn ich wollte sehr gern mein eigener Herr sein.«
Es stimmte, was er sagte. Ausnahmsweise waren sie beide einmal einer Meinung gewesen. Er hatte sowieso immer von einer eigenen Kanzlei geträumt, und Patricia in ihrem unerschütterlichen Vertrauen in seine und ihre Fähigkeiten hatte gefunden, dies sei genau das, was ihm zustehe. Das Risiko hatte sie sicher
nicht wirklich einschätzen können. Hätte er selbst vorsichtiger sein müssen?
»Du hast unser Haus bereits beliehen?« vermutete Patricia, und er nickte.
»Was ist mit Stanbury?« fragte sie.
»Stanbury kann ich nicht beleihen«, sagte Leon, »es gehört dir.«
»Und wenn ich …«
»Wenn du Stanbury verkaufst? Ach, Patricia …«
Über den Tisch hinweg sahen sie einander an, und es war einer jener in ihrer Ehe selten gewordenen Momente, in denen ein gemeinsames Gefühl sie plötzlich intensiv verband: die Liebe zu Stanbury, die Gewißheit, dort ein Refugium zu haben, eine eigene kleine Welt für sich, in die nichts dringen konnte von der Welt draußen.
»Stanbury ist mehr als nur ein Haus«, sagte Leon. »Stanbury zu verkaufen würde bedeuten, daß eine Ära zu Ende ginge. Und wie sollten wir das unseren Freunden erklären?«
»Ich kann das alles noch gar nicht begreifen«, murmelte Patricia, »es kommt so plötzlich.«
»Ich würde dich bitten, hier schon anzufangen, ein wenig zu sparen«, sagte Leon. »Diese täglichen Reitstunden für die Kinder … die sind einfach nicht mehr möglich.«
»Wie soll ich ihnen denn das erklären?«
Er zuckte mit den Schultern. »Sag ihnen, wie es ist. Sie werden ja sowieso spätestens dann alles merken, wenn wir daheim in München umziehen. Sie müssen nicht wissen, wie schlimm es steht, aber daß sich unser Leben verändert, läßt sich sicher nicht verhehlen.«
»Und daß du … ich meine, wenn du deine Freunde fragst? Tim und Alexander? Ihr seid so eng verbunden euer Leben lang, sie würden dir bestimmt helfen!«
»Langfristig nützt das aber nichts. Denn mein Büro wird weiterhin schleppend laufen, und über kurz oder lang wären wir
wieder am selben Punkt. Dauerhaft schaffen wir es nur, wenn wir unseren Lebensstandard meinem Einkommen anpassen.«
Er sah, wie sie zusammenzuckte bei seinen Worten. Da er sie nur zu gut kannte, wußte er genau, welche in ihren Augen grauenhaften Begriffe sie mit ihnen verband: sozialer Abstieg - Verarmung - Anfang vom Ende - tief fällt, wer zu hoch hinauswill.
»Übrigens«, sagte er rasch, » habe ich mir im letzten Sommer Geld privat geliehen. Von Tim. Seine therapeutische Praxis läuft ja glänzend.« Nur wer sehr genau hinhörte, hätte den Neid in seiner Stimme vernommen. »Mit dem Geld habe ich es geschafft, den Winter zu überbrücken. Aber - es ist eben keine Lösung von Dauer!«
»Wieviel hat er dir gegeben?«
»Fünfzigtausend.«
Sie zuckte erneut zusammen. »Euro?«
»Ja.«
»Also«, sie gehörte zu den Menschen, die noch immer umrechneten, um sich die Größenverhältnisse klarzumachen, »hunderttausend Mark! Das ist eine Menge Geld! Kannst du das denn je zurückzahlen?«
»Ganz langsam. Euro für Euro. Aber wie du bereits sagtest: Tim ist neben Alexander mein bester Freund. Er macht mir keinen Druck. Ich habe Zeit.«
»Mir ist das vor Evelin ziemlich unangenehm«, murmelte Patricia.
Leon sah sie kühl an. »Eben hast du noch selber vorgeschlagen, ich soll meine Freunde …«
»Jaja.« Sie merkte, daß sie Kopfschmerzen bekam. »Trotzdem kann es mir doch wohl unangenehm sein, oder?« Sie griff nach ihrer Handtasche. »Kannst du zahlen? Ich würde jetzt gern nach Hause fahren.«
Während der Heimfahrt sprachen sie kein Wort. Jeder war in seine eigenen Gedanken versunken. Leon grübelte über die Probleme
der näheren Zukunft nach, die ihm turmhoch erschienen und für die er noch weniger Lösungsmöglichkeiten sah, als er seiner Frau
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