Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
mich sehr wohl etwas an. Du bist fünfzehn und damit weit davon entfernt, allein und völlig auf eigene Faust dein Leben gestalten zu können. Ich habe die Verantwortung für dich, und ich werde es nicht zulassen, daß du nachts in Autos mit fremden Männern …«
Das richtige Wort für das, was seine Tochter getan hatte, schien ihm nicht einzufallen. Ricarda hob den Kopf noch ein wenig höher und sah ihn herausfordernd an.
»Ja? Was? Was mache ich nachts mit fremden Männern in Autos? «
»Patricia sagt, ihr seid halb entkleidet gewesen.«
Ricarda lachte, doch es war ein Lachen voller Wut. »Die Ärmste! Das muß ja ein gräßlicher Anblick für sie gewesen sein! Zwei
halbnackte Menschen im Auto! Das muß sie natürlich sofort melden!«
»Ich bin froh, daß sie es mir gesagt hat«, erwiderte Alexander.
Sie hatte in aller Frühe an seine und Jessicas Schlafzimmertür geklopft und kaum das »Herein« der beiden abgewartet. Jessica war gerade frisch geduscht und in ein großes Handtuch gewickelt aus dem Bad gekommen. Alexander lag noch im Bett. Patricia trug ihre üblichen Joggingsachen, in denen sie stets den Tag begann. Sie sah nicht so aus, als habe sie in der Nacht geschlafen.
Sie hatte ein ungeheures Theater um ihre Entdeckung vom Vorabend gemacht. Jessica fand, daß sie viel zu dick auftrug. Ihr tat Alexander leid, der sich von ihrer Hysterie anstecken ließ, blaß wurde und plötzlich sehr hilflos und traurig wirkte.
»Du mußt endlich etwas unternehmen! Deine liberalen Prinzipien in allen Ehren, aber so kann es doch wirklich nicht weitergehen. Die beiden haben … also, wenn du mich fragst, ich würde sagen, sie hatten Geschlechtsverkehr! In einem asozialen Auto. Ein asozialer Kerl! Was machst du eigentlich, wenn sie schwanger wird? Oder wenn sonst etwas passiert? Sie ist fünfzehn , Alexander! In gewisser Weise ist sie noch ein Kind! Du kannst sie nicht machen lassen, was sie will, und dabei deinen Kopf in den Sand stecken und sagen: Interessiert mich nicht!«
»Ich glaube nicht«, hatte Jessica mit einiger Schärfe in der Stimme eingeworfen, »daß Alexander jemals im Zusammenhang mit Ricarda ›Interessiert mich nicht‹ gesagt hat!«
Patricia war in ihrem Redeschwall fortgefahren, als habe sie nichts gehört, und als sie endlich gegangen war, hatte Alexander wie betäubt ausgesehen und sich schließlich mühsam aus dem Bett gequält. »Ich glaube, ich verzichte heute auf das Frühstück«, hatte er gesagt, »ich will lieber gleich mit Ricarda sprechen. Würdest du mir den Gefallen tun und dabeisein?«
Schon da hatte sie gezögert. »Ich halte das nicht für gut. Wir beide wirken dann so … übermächtig.«
Für gewöhnlich war er solchen Argumenten gegenüber aufgeschlossen, aber diesmal blieb er bei seiner Bitte.
Und so waren sie nun in dem kleinen Schlafzimmer versammelt, Jessica und Alexander angezogen, Ricarda im Morgenmantel und mit wirren Haaren. Jessica hatte das Bett gemacht und fragte sich nun, wo ihre Morgenübelkeit blieb, die in der kommenden halben Stunde besonders ungelegen käme.
»Patricia platzt doch vor Neid«, sagte Ricarda nun verächtlich, »weil Leon sie nämlich nicht mehr anfaßt!«
»Ricarda!« Alexander war entsetzt. »Wie kannst du solche Dinge behaupten?«
»Ich behaupte das nicht! Ich weiß es! Ich habe gehört, wie Leon zu Tim sagte, daß er es nicht mehr über sich bringt, mit Patricia zu schlafen!«
»Das geht uns wirklich nichts an«, sagte Alexander, zutiefst unangenehm berührt, »und du solltest auch gar nicht versuchen, von deinen Schwierigkeiten abzulenken.«
»Ich habe keine Schwierigkeiten.«
»Schön. Und damit das so bleibt, wirst du diesen jungen Mann nicht wiedersehen.«
Ricarda wurde blaß. »Das kannst du mir nicht verbieten.«
»Da du mir weder seinen Namen nennen noch ihn uns ordentlich vorstellen willst, sehe ich keine andere Möglichkeit als die, dir den Umgang insgesamt zu verbieten. Ich kann es nicht zulassen, daß sich meine fünfzehnjährige Tochter nachts in Autos von Männern befummeln läßt, die ich nicht kenne und von deren Absichten ich nicht die geringste Ahnung habe.«
Jessica hielt den Atem an. Sie sah, daß sich Ricardas Augen mit Tränen füllten - Tränen der Wut, wie sie vermutete.
»Du bist ganz anders, als du mal warst«, stieß sie hervor. »Früher warst du mein bester Freund. Du hast mich immer verstanden. Du hast immer zu mir gehalten. Aber seit du mit J. zusammen bist …«
»Verdammt noch mal, Ricarda!«
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