Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
sie sie bloß nie vergaß, »ich hingegen habe überhaupt noch nie nach dir gegriffen.«
»Phillip …«
Er ließ sie stehen und ging die Dorfstraße entlang, mit schnellen Schritten, als versuche er, sich von etwas zu befreien.
Als versuche er, sich von ihr zu befreien.
Sie krallte ihre Fingernägel in die Handfläche, als könne sie damit den Schmerz ableiten, der sie so heftig überfiel, daß sie meinte, nach Luft schnappen zu müssen. Er hatte ihr nichts Neues gesagt, aber neu war die Härte, mit der er es getan hatte. Er hatte ihr klargemacht, daß er sie nicht liebte. Daß er keine gemeinsame Zukunft wollte. Daß sie ihm im wesentlichen lästig war. Und in besseren Momenten nur gleichgültig.
Wie oft will ich mich noch treten lassen?
Sie schaffte es, ins Gasthaus hinein- und nach oben in ihr gemeinsames Zimmer zu gelangen, ehe die Tränen sie überschwemmten. Sie weinte heftig und wild und hoffnungslos.
Sie weinte eine Stunde lang, und erst als sie nicht mehr konnte, als die physische Erschöpfung alles überdeckte, versiegte ihr Schluchzen.
Ich werde meine Koffer packen und weg sein, bis er wiederkommt, dachte sie.
Es würde ihm völlig egal sein.
Sie begann zu begreifen, worin Elenas Schwierigkeiten bestanden hatten. In diesen Osterferien begriff sie es wirklich, und sie fragte sich, weshalb ihr das nicht vorher klargeworden war. Vielleicht war alles zu neu gewesen. Jetzt blickte sie tiefer, und ihr Unbehagen wuchs. Womöglich war es auch schon länger dagewesen, doch sie hatte es verdrängt. Nun mochte es sich nicht mehr beiseite schieben lassen.
Sie war zu einer ihrer üblichen Wanderungen aufgebrochen, ohne gefrühstückt zu haben. Sie empfand die Atmosphäre im Haus an diesem Morgen als unerträglich; noch nie hatte es sie so sehr nach draußen gedrängt. Außerdem war die Übelkeit ausgeblieben, und diesen angenehmen Umstand mochte sie nicht durch den Verzehr eines Rühreis oder auch nur eines Tellers Müsli gefährden.
Wie immer ging sie schnell, machte große Schritte. Barney tollte neben ihr her, lief vor und zurück, war wie immer begeistert davon, sich nach Herzenslust bewegen zu dürfen. Irgendwann spät in der Nacht mußte es geregnet haben, denn auf dem Weg standen Pfützen, das Gras rechts und links glänzte naß. Ein kühlerer Wind wehte, trieb die Wolken auseinander. Bis zum Nachmittag würde die Sonne wieder scheinen.
Jessica hatte mit Alexander nicht gestritten, aber sie hatte ihm gesagt, daß sie sein Verhalten gegenüber Ricarda nicht für richtig hielt, und er war verstimmt gewesen, hatte offenbar auch kein weiteres Gespräch mit ihr darüber gewünscht. Das war neu, denn für gewöhnlich orientierte er sich gerade in Fragen, die Ricarda betrafen, gern an ihr. Aber diesmal hatte er wohl Angst, zwischen Jessica und Patricia wie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben zu werden. Nach Jessicas Ansicht hatte Patricia weder das Recht noch die Veranlassung, sich in die Angelegenheit einzumischen,
doch offenbar brachte es Alexander nicht fertig, sie in ihre Grenzen zu weisen.
Und da, dachte sie nun, liegt wohl auch ein Teil des Problems. Zwischen ihnen allen existierten keine echten Grenzen. Jeder hat Zugang zu jedem und zu allem. Niemand darf in die Schranken gewiesen werden, als könnte in so einem Moment ein Kunstwerk zusammenbrechen - das Kunstwerk dieser großen, tiefen, unendlichen Freundschaft.
Eine Freundschaft, der, nach Jessicas immer ausgeprägter werdendem Gefühl, eben sehr viel Künstlichkeit anhaftete, die im Kern nicht echt schien. Zwischen den drei Männern nicht, in denen sie doch ihren Ausgang nahm, und schon gar nicht zwischen den Ehefrauen. Was vermutlich die Ursache dafür war, daß Grenzen nicht gebildet oder, sollte es sie einmal gegeben haben, aufgehoben worden waren. Echte Freundschaft vertrug Individualität und eigene Lebensbereiche. Eine künstliche Freundschaft möglicherweise nicht.
Einer drang in die Angelegenheiten des anderen - aber nur da, wo es im Grunde unerheblich und ungefährlich war. Patricia machte einen gigantischen Aufstand um Ricarda, dabei tat Ricarda etwas, das völlig normal war: Sie hatte einen Freund. Sie knutschte mit ihm. Vielleicht schlief sie mit ihm. Ihre Mutter hatte sie sicher aufgeklärt. Es gab keinen Grund, sich derartig aufzuregen.
Auf der anderen Seite hüteten sie sich alle, die eindeutig depressive Evelin auf ihre Traurigkeit anzusprechen. Das hätte schlafende Hunde wecken können, und vor nichts schienen sie
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