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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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alle Kraft zusammen und schrie: » Verschwinde endlich! «
    Keith wandte sich um und verschwand.
    Und nun lag er hier und rauchte und wußte nicht weiter. Ähnliche Szenen wie die am frühen Morgen hatte sein Vater ihm schon öfter gemacht, aber noch nie hatte er ihn als Parasiten beschimpft. Zum erstenmal hatte er ihn wirklich verletzt. Er war zu weit gegangen.
    Außerdem hatte er ihn gewissermaßen hinausgeschmissen.
    Er wollte nicht mehr zurück. Er hatte keine Lust mehr, dort über den Hof zu schleichen und auf der Hut vor dem Alten zu sein, der unweigerlich wieder auf ihm herumhacken würde, wenn er ihn zu fassen kriegte. Er mochte nicht mehr mit eingezogenem Kopf am Eßtisch sitzen und den mißbilligenden Blick des Vaters auf sich ruhen fühlen, weil er wieder einmal schmarotzte, Lebensmittel verbrauchte, für die er keinen Penny bezahlt hatte. Er wollte nicht mehr derjenige sein, an dem sich alle die Füße abwischten.
    Er wollte fort, und er wollte als gemachter Mann wiederkommen.
    Das Problem war: Er hatte praktisch kein Geld.
    In seiner Hosentasche hatten sich zwei Pfundnoten angefunden, dazu ein wenig nicht nennenswertes Kleingeld. Im Auto hatte er drei Pfund zusammenkratzen können. Fünf Pfund und ein paar Pennies! Wie sollte er damit bis London kommen, eine Unterkunft bezahlen und die Zeit überbrücken, bis er eine Arbeit oder eine Lehrstelle gefunden hatte?
    Ein Schlamassel. Ein auswegloser Schlamassel.
    Er dachte an Ricarda. Daran, wie sie in der letzten Nacht hier in seinen Armen gelegen hatte, sehr erwartungsvoll, sehr verliebt, ein wenig aufgeregt. Sie war noch so jung. In der letzten Nacht war ihm das wieder wirklich bewußt geworden. Fünfzehn Jahre! O Gott!

    Gleichzeitig schien sie ihm immer sehr stark. Sehr erwachsen. Sie kicherte nicht ständig wie andere Mädchen ihres Alters, sie schwärmte nicht für Popstars oder zog sich flippige Klamotten an, die nicht schön, aber im Trend waren. Ihm gefielen ihr Ernst, ihre Ruhe. Vielleicht war sie mehr als ernst, eher melancholisch, manchmal traurig. Sie hatte einiges mitgemacht: Die Trennung ihrer Eltern hatte sie geradezu traumatisiert, und dann war da noch dieser fürchterliche Clan, in dessen Mitte sie alle ihre Ferien verbringen mußte. Ihm kam es beinahe gespenstisch vor, was sie erzählt hatte; sechs Menschen, die eine zwanghafte Freundschaft zelebrierten, und dahinter stimmte nichts, gar nichts. Nach seiner Ansicht handelte es sich um einen Haufen Neurotiker, und wenn man überhaupt etwas Gutes über sie sagen wollte, dann blieb nur der Umstand, daß ohne die Stanbury-Clique er und Ricarda einander nie kennengelernt hätten.
    Der Gedanke hatte unterschwellig schon die ganze Zeit in ihm herumgespukt, doch hatte er es nicht gewagt, sich wirklich mit ihm zu beschäftigen. Nun jedoch ließ er ihn endlich in sein Bewußtsein vordringen.
    Was wäre, wenn er zusammen mit Ricarda wegginge?
    Er wußte, daß sie sofort zustimmen würde, wenn er ihr diesen Vorschlag machte. Auf nichts brannte sie so heftig wie darauf, aus ihrem Leben auszubrechen. Sie liebte ihn und war ohnehin von Grauen erfüllt, wenn sie an das Ende der Ferien dachte und an die Wochen der Trennung, die sie beide würden überstehen müssen. Was konnte es Schöneres für sie geben als die Vorstellung, mit ihm in einer kleinen Londoner Wohnung zu leben und gemeinsam ein eigenes, unabhängiges Leben aufzubauen?
    Das Problem bestand natürlich vor allem in ihrem Alter. Sie war fünfzehn, und Keith war nicht ganz sicher, wie weit er sich den schlimmsten Ärger einhandeln konnte, wenn er sie gewissermaßen entführte. Andererseits wurde sie Anfang Juni sechzehn, in etwa sechs Wochen also, und mit sechzehn sah alles schon etwas anders aus. Ohne Schwierigkeiten konnte sie dann einen Job
annehmen in London und zum Lebensunterhalt beitragen. Wenn sie beide verdienten, mußte es gehen. Vielleicht hatte sie ja auch noch ein Sparbuch oder etwas Ähnliches. Und vor allem: Er wäre nicht allein. Da wäre jemand zum Reden, zum Lachen, zum Kuscheln. Jemand, mit dem man die Probleme besprechen und an Lösungen arbeiten konnte. Allein nach London - davor hatte er irgendwie Angst. Aber mit Ricarda bekam die Sache einen anderen Geschmack. Ein wunderbares Abenteuer … Und sein Alter würde ganz schön staunen.
    Er drückte seine Zigarette aus, stand auf und trat ans Fenster. Still und leer lag der Hof vor ihm. Eigenartig, daß Ricarda noch nicht da war. Aber schon in der Nacht hatte er die Befürchtung

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