Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
gehegt, daß sie diesmal zu weit gegangen waren. Sie war viel zu spät heimgekommen. Ihr Vater hatte ihr verboten, den Grund von Stanbury House zu verlassen, aber sie hatte sich nicht im mindesten darum gekümmert. Wahrscheinlich hatte sie jetzt echten Ärger, wurde festgehalten, fand keine Möglichkeit, den Wachhunden um sie herum zu entkommen. Das machte ihn unruhig, gerade heute. Doch er kannte sie, recht gut sogar inzwischen. Er war überzeugt, daß sie sich nicht von etwas abhalten ließ, was sie wirklich wollte. Sie war furchtlos. Er mußte lächeln. Ja, furchtlos wäre das Attribut, das er immer als erstes nennen würde, wenn jemand ihn bäte, Ricarda zu beschreiben. Sie ließ sich nicht einschüchtern, und das mochte er so sehr an ihr.
Er fragte sich, ob mögen das falsche Wort war. Vielleicht war es schon Liebe, was er empfand, aber mit Sicherheit vermochte er das nicht zu sagen. Es war schwierig, sich in den eigenen Gefühlen auszukennen.
Er zündete sich die nächste Zigarette an, rauchte nervös.
Sie würde kommen, klar. Die Frage war nur: Wann ?
18
Ricardas Tagebuch
Immer noch 23. April . Ich glaube es nicht! Ich glaube es nicht! Ich glaube es nicht!
Ich möchte schreien, ich möchte meine Fingernägel in die Wand schlagen oder noch lieber in IHR Gesicht! Ich möchte sie aufjaulen hören vor Schmerz, und ich möchte sehen, wie sie sich krümmt. Krank und kaputt will ich sie sehen.
Am allerliebsten TOT!
Ich glaube nicht, daß ich irgendeinen Menschen auf der Welt so hasse oder je hassen werde wie Patricia. Gegen sie ist J. ein kleiner Engel, mit dem es sich gut leben läßt.
Vorhin wollte ich gehen. Ich war natürlich nicht beim Frühstück, denn mit jedem Tag wird es unerträglicher für mich, dieser dummen Bande in die bornierten, ekligen Gesichter zu schauen. Erstaunlicherweise hatte Papa sich noch gar nicht gerührt. Dabei war ich wirklich überzeugt, er würde als erstes am Morgen bei mir aufkreuzen und mich belabern und mir sagen, was ich alles darf und was nicht. Ich dachte schon, er hat kapiert, daß ich auf das, was er sagt, scheiße, und deshalb wollte ich losgehen zu Keith, denn in mir waren so viel Wärme und Liebe, und ich hätte es nicht länger ausgehalten ohne ihn.
Als ich unten durch die Halle ging, schoß plötzlich Patricia aus dem Eßzimmer, wie ein scheußliches, kleines, hochgiftiges Insekt, und sie krallte sich an meinen Arm, so fest, daß ich ihre Fingernägel durch den Stoff meiner Jeansjacke spüren konnte.
»Wo willst du hin?« rief sie, und ihre Stimme klang total schrill und hysterisch.
Ich versuchte mich loszumachen. Ich bin bestimmt anderthalb Köpfe größer als sie, aber sie hatte erstaunlich viel Kraft. Ich
wäre mit ihr fertig geworden, aber ich scheute davor zurück, sie in den Bauch zu boxen oder gegen das Schienbein zu treten, und so stand ich da und kam mir vor wie jemand, der verhaftet worden ist und jetzt in einem Polizeigriff festgehalten wird.
»Wo willst du hin?« Ich glaube, sie fragte das dreimal, während ich mich wand wie ein Fisch am Haken, um meinen Arm loszubekommen.
»Das geht dich nichts an«, stieß ich schließlich hervor, »du hast mir nichts zu sagen!«
»Oh, da irrst du dich, da irrst du dich gewaltig!« Ihre Stimme war wirklich viel schriller als sonst, und sie hatte auch ganz rote Wangen. Vermutlich zu hoher Blutdruck. Ich bin auch jetzt noch ganz erstaunt, daß sie sich meinetwegen so entsetzlich aufregen konnte. Aber vielleicht hatte sie vorher Krach mit ihrem Alten. Vielleicht wäre sie gern von ihm gevögelt worden, und er hat sich wieder mal nur genervt abgewandt. Muß sich ja auch scheiße anfühlen.
»Das ist mein Haus!« schrie sie. »Und mich geht alles etwas an, was hier passiert!«
Ihre Fingernägel taten mir wirklich weh. Zu allem Überfluß mußte auch noch Tim auftauchen, dieses Ekelpaket mit seinen gräßlichen Gesundheitsschuhen und dem struppigen Bart.
»Was ist denn los?« fragte er, so nach dem Motto: Vertraut euch doch dem guten, alten Tim an! So wirkt es jedenfalls immer, wenn er faselt. So von oben herab und als ob er über den Dingen steht, und wir anderen sind die armen, kleinen Kreaturen, die alle mit ihrem Leben nicht zurechtkommen. Ausgerechnet er! Ausgerechnet er will sich überlegen fühlen!
Jedenfalls schrie Patricia weiter herum, ich sei ein Flittchen (Das hat sie wirklich gesagt! Auch wenn sie es jetzt abstreitet, und natürlich glaubt Papa ihr !), und irgend jemand müßte jetzt mal die Zügel
Weitere Kostenlose Bücher