Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Da kann etwas gezerrt oder gerissen sein, und mit solchen Dingen ist nicht zu spaßen.«
»Ach, ich weiß nicht.« Sie warf ihm einen eigentümlichen
Blick zu und ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. Sie hat wirklich immer mehr von einem Mehlsack, dachte Leon.
»Weißt du, die Ärzte fangen immer davon an, daß ich zu dick bin und daß ich das ändern muß. Ich gehe hin wegen einem verknacksten Fuß oder einem verstauchten Handgelenk, und ich komme heraus voller Angst wegen Bluthochdruck und Osteoporose und Herzproblemen, und am Ende habe ich noch ein Rezept für Gymnastik und einen Ernährungsplan in der Hand.« Sie verzog gequält das Gesicht. »Ich habe das so satt, verstehst du? Ich habe alles so satt.«
Er verstand sie, wußte aber auch, daß kein vernünftiger Arzt ihr Übergewicht einfach ignorieren konnte.
»Du solltest trotzdem zum Arzt«, meinte er unbehaglich.
»Kann ich Kaffee haben?« fragte sie.
Er nickte. Sie wuchtete sich wieder hoch, hinkte zum Schrank, nahm eine Tasse heraus, watschelte zum Tisch zurück, schenkte sich ein. Die Zuckerdose stand griffbereit. Er beobachtete fasziniert, wieviel Zucker sie sich in ihren Kaffee schaufelte. Dann bemerkte er ihren begehrlichen Blick und schob ihr den bröseligen Muffin zu.
»Möchtest du? Wenn es dich nicht stört, daß ich daran herumgepuhlt habe …«
Sie nickte. Natürlich mochte sie. Sie verschlang das trockene Gebäck, als habe sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Dann trank sie in großen, durstigen Zügen ihren Kaffee.
»Wußtest du …«, fragte sie dann zögernd, hielt inne und schien ihre ganze Willenskraft zu brauchen, den Satz zu beenden, »wußtest du, daß Jessica … ein Baby bekommt?«
»Nein.« Es war ihm so gleichgültig, ob Jessica ein Baby bekam oder nicht, daß er die Neuigkeit bereits wieder vergessen hatte. »Nein, davon hatte ich keine Ahnung.«
»Ich auch nicht. Sie hat es ja geschickt geheimgehalten. Um dann unerwartet die Katze aus dem Sack zu lassen und den großen Überraschungscoup zu landen.«
Er meinte, Verärgerung aus ihrer Stimme zu hören, und wunderte sich. Gerade Evelin schien Jessica immer besonders zugetan gewesen zu sein.
»Ganz so war es nicht«, meinte er, sich widerwillig an den Ablauf des Vorabends erinnernd. Diese Dinge berührten ihn alle nicht, besonders nicht in seiner Situation. »Jessica hat gar nichts darüber gesagt, oder? Es war Alexander, der plötzlich damit herausrückte, und ich hatte den Eindruck, das war Jessica gar nicht recht.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall war es unverantwortlich. Unverantwortlich ! So macht man das nicht! Allein schon wegen Ricarda! Das war doch ein Schock für das Mädchen! «
»Mag sein.« Sie nervte ihn. Er schaute auf seine Uhr. »Hm, ich fürchte, ich muß dich allein lassen. Ich habe nachher ein wichtiges Telefonat mit meinem … Büro und muß noch ein paar Unterlagen durchgehen.«
Sie nickte, teilnahmslos plötzlich und in eigene Gedanken versunken. Gerade noch hatte sie sich aufgeregt, hatte ihre Stimme gehoben, nun war sie wieder in sich zusammengesunken.
Tim, der große Psychologe, dachte Leon, sollte sich mal um seine Frau kümmern, anstatt ständig nur an seiner Doktorarbeit herumzubasteln.
Er stand auf. »Glaubst du nicht«, fragte er noch, während er sich schon der Tür näherte, »daß es dir zu warm wird in dem Ding?« Er meinte ihren überdimensionalen Rollkragenpullover, den sie häufig trug und den er schrecklich fand. Er erinnerte sich, daß Patricia einmal gemeint hatte, Evelin glaube wohl, in diesem sackähnlichen Gewand am besten ihre vielen überflüssigen Pfunde zu kaschieren. »Es soll heute noch mal richtig anziehen mit den Temperaturen!«
Sie antwortete nicht. Sie starrte in ihre Kaffeetasse, als gebe es dort etwas Interessantes zu entdecken.
Leise verließ er die Küche.
Tim stand in der geöffneten Gartentür, als Jessica über die Terrasse zum Haus zurückkehrte. Er trug Shorts und präsentierte seiner Umwelt kräftige, stark behaarte Beine. Ausnahmsweise steckten seine Füße einmal nicht in den obligatorischen offenen Sandalen, sondern er war barfuß. Offenbar hatte er beschlossen, nun endgültig den Sommer einzuläuten.
»Schon wieder am Laufen?« fragte er leutselig.
Jessica hatte gerade festgestellt, daß sie zwei Stunden unterwegs gewesen war. Sie war völlig verschwitzt und hatte das Gefühl, ziemlich unattraktiv auszusehen.
»Ja«, sagte sie knapp.
Er schüttelte den Kopf. Sein zotteliger
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