Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
ein Wunder. Außer zum Besuch von Kevin McGowans Grab war er nur zweimal in seinem Leben auf Friedhöfen gewesen: bei der Beerdigung seiner Mutter natürlich, und dann viele Jahre zuvor, als Fünfzehnjähriger, zum Begräbnis seiner Großmutter. Er hatte nicht mitgewollt damals, wie er sich erinnerte. Mummie hatte ihn gezwungen. Sie waren mit dem Zug nach Devon gefahren, in das Dorf, in dem Mummies Mutter gelebt hatte. Er hatte einen schwarzen Anzug und eine Krawatte tragen müssen. Der Friedhof war ähnlich gewesen wie der von Bradham Heights, voller Blumen und Bäume. Es war August gewesen, die Luft warm und mild und schon ein bißchen herbstlich, und die Blumen hatten die tiefen, starken Farben des ausgehenden Hochsommers gehabt. Trotzdem war ihm kalt gewesen, und er hatte nichts als Grauen und Furcht gespürt und den Wunsch, zu verschwinden. Nie hätte er geglaubt, er könne einmal an solch einem Ort verweilen und Frieden verspüren, tiefen Frieden.
Ich fange an, dieses Land zu lieben, dachte er, irgend etwas hier berührt mich. Es wird schließlich nicht mehr nur um meinen Vater gehen. Es wird mehr und mehr auch um mich gehen.
Er starrte einen Grabstein an, auf dem ein eingemeißelter Engel flehend die gefalteten Hände zum Himmel hob. Ein Kind lag hier begraben, wie er an den Jahreszahlen erkannte, ein Kind, das knapp sechs Jahre alt geworden war.
Unwillkürlich mußte er an Geraldine denken, daran, daß sie sich so sehr Kinder wünschte und ein Familienleben. Nicht, daß er sich hätte vorstellen können, Teil ihres Traumes zu werden - es war definitiv klar für ihn, daß sie nicht die Frau war, mit der er sein Leben würde verbringen wollen -, aber erstmals konnte er in Ansätzen nachvollziehen, worum es ihr ging und weshalb sie so festhielt an ihren Wünschen. Fast hatte er Angst, es könne auch ihm irgendwann so ergehen. Er könnte sich plötzlich nach
einer Art Leben sehnen, das er bislang nicht gewollt hatte und das vielleicht auch für ihn nicht erreichbar war.
Er wollte nicht mit sinnlosen Träumen herumlaufen.
Oder war Stanbury House bereits solch ein sinnloser Traum?
Es fiel ihm ungewöhnlich schwer, sich von dem idyllischen kleinen Garten loszureißen. Als er wieder auf die Straße trat, spürte er ein so übermächtiges Verlangen nach dem Haus seines Vaters, daß er beschloß, jetzt sofort dorthin zu fahren. Einfach ein wenig durch den Park zu streifen, aus der Ferne die schlichte Schönheit des Baus zu betrachten. Sehen, wie sich der Himmel in den blanken Fensterscheiben spiegelte.
»Ist Ricarda aufgetaucht?« fragte Patricia. Sie kniete vor der zum Blumenkasten umarrangierten Schafstränke vor der Eingangstür und entfernte die Tannengestecke, die dort seit Weihnachten vor sich hin kümmerten. Zum Teil schlangen sich noch Lichterketten um die verdorrten Nadeln, aber sie hatten bereits zu Silvester ihren Geist aufgegeben und konnten weggeworfen werden. Sie landeten in der großen Pappschachtel, die sich Patricia für die Abfälle bereitgestellt hatte.
»Nein«, sagte Alexander auf ihre Frage hin. Er war gerade aus dem Haus gekommen und unschlüssig stehengeblieben, und Patricia dachte, daß er in der letzten Woche tatsächlich im Zeitraffer zu altern schien. In rasantem Tempo wurde er grauer, müder, sogar langsamer in seinen Bewegungen. Seine Schultern schienen ein wenig nach vorne gesackt.
Patricia grub mit zusammengebissenen Zähnen in der Erde herum und verkniff es sich, noch einmal zu betonen, daß sie zu diesem Thema nichts mehr sagen würde.
»Na ja«, meinte sie schließlich nur.
»Ich dachte, ich setze mich im Garten auf die Bank, auf der Ricarda gestern saß«, sagte Alexander. »Ich muß für mich sein.«
Patricia schaute auf. »Wir alle sind seit Tagen nur noch für uns «, sagte sie. »Fällt dir das auf?«
»Gestern abend …«
»Die Mahlzeiten, ja, das schaffen wir gerade noch miteinander. Obwohl es mit dem Frühstück kaum noch klappt. Aber sonst … tagsüber … wir machen doch nichts mehr gemeinsam. Jeder hängt herum, allein, in sich gekehrt. Keiner scheint Lust zu haben, mit den anderen zusammen etwas zu unternehmen.«
»Hm.« Alexander sah sie nachdenklich an. »Was meinst du, woran das liegt?«
»Wir hatten schon einmal so eine Phase«, sagte Patricia.
Er nickte langsam. »Ich weiß. In den anderthalb Jahren, bevor …«
»… bevor du dich von Elena getrennt hast. Nachdem sie voll auf Konfrontation gegangen war, stimmte es zwischen uns allen nicht
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