Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
etwas verlorengeht! Im übrigen kann ich nicht mal Evelin finden, die vielleicht weiß, wo die Papiere sind. Es ist wirklich zum Kotzen!«
»Hast du schon in der Küche nachgesehen?« fragte Patricia.
Tim lächelte, aber es war weder ein freundliches noch ein amüsiertes Lächeln. »Natürlich. Als erstes. Aber da ist sie nicht.«
»Du schreibst doch in deinen Laptop, denke ich.«
»Ja. Aber ich hatte ein paar Seiten ausgedruckt. Ich möchte nicht, daß … daß sie in falsche Hände gelangen.«
»Also«, sagte Patricia, »außer uns ist hier niemand. Aber vielleicht sind wir in deinen Augen auch schon falsche Hände .«
Tim ignorierte ihre Bemerkung.
»Wer kocht heute eigentlich das Mittagessen?« fragte er übergangslos. »Evelin ist offenbar nicht da, Jessica rennt wie üblich in der Gegend herum, und du scheinst ziemlich beschäftigt mit deinen Pflanzen.«
»Oh«, sagte Patricia spitz, »dann schlage ich doch vor, es kocht der, der fragt! Im übrigen hat das ja auch noch ein bißchen Zeit. Es ist gerade elf Uhr!« Sie winkte Steve, ihr zu folgen, und ließ einen ziemlich verdatterten Tim einfach stehen.
»Es ist ja wohl nicht einzusehen, daß bestimmte Arbeiten immer für Frauen reserviert sein sollen«, sagte sie zu Steve, während sie ihm sein Geld gab, aber Steve, in dessen nordenglische Bauernfamilie das Wort Emanzipation noch nicht wirklich vorgedrungen war, zuckte nur hilflos mit den Schultern.
»Bei uns kocht meine Mum«, sagte er.
Das Dorf hieß Bradham Heights, und es befand sich an einer Straße, von der Phillip schon geglaubt hatte, daß sie irgendwann am Meer enden würde, ohne daß vorher noch eine Stadt, ein Dorf oder sonst eine menschliche Ansiedlung auftauchen würde. Bradham Heights lag hinter einer Hügelkuppe und war inmitten der sanft geschwungenen Landschaft wie eine Handvoll hingewürfelter Spielzeughäuschen anzusehen. Die Häuser bestanden aus dem typischen grauen Granitstein der Gegend, und es gab eine wuchtige Kirche, die von einem zauberhaften Friedhofsgarten voll blühender Apfelbäume umgeben war. Auf den Hängen, die sich rund um das Dorf erstreckten und die von zahllosen steinernen Mauern durchzogen waren, grasten Schafe und vereinzelt Kühe.
Ob es hier irgend etwas von dem Dreck gibt, dem wir in den Großstädten ausgesetzt sind? fragte sich Phillip. Drogen und Alkohol und Computerspiele mit Gewaltdarstellungen und pornographische Filme und das alles? Man meint, daß nichts davon bis hierher dringen könnte.
Er fand ein Pub, das gleich an der Hauptstraße lag, und zu seiner Überraschung erwies es sich als gepflegt und komfortabel. Er bekam einen großartigen Brunch dort; Kaffee, soviel er wollte, Orangensaft, Rühreier, gebutterten Toast und ein Omelett mit Champignons, wie er es besser nie gegessen hatte. Er aß sich satt, trank einen Sherry zum Abschluß und war erstaunt über den vergleichsweise niedrigen Preis. Zudem war er höchst erstaunt über sich selbst. Denn er fühlte sich wohl hier, friedlich und geborgen, und Gefühle dieser Art hatte er nicht mehr gekannt, seit er ein kleines Kind gewesen war und sich in den Armen seiner Mutter beschützt gefühlt hatte. Er und das Landleben! Und noch dazu Yorkshire, Brontë-Land! Diese wilde, melancholische Einsamkeit, diese Düsternis und Kargheit, in der sich dann plötzlich idyllische Dörfchen, blühende Bäume und Blumengärten fanden, und kleine Bäche, in deren dahinplätscherndes Wasser tief die Zweige alter Trauerweiden eintauchten. Er konnte nicht begreifen, weshalb ihn dies so berührte, ihn, der es nie außerhalb der großen Städte, der rastlosen, quirligen Metropolen ausgehalten hatte. London natürlich, aber oft hatte er gedacht, eigentlich sei er im Herzen ein New Yorker, Bewohner der Stadt, die niemals schläft, denn so hatte er die für sich einzig möglich erscheinende Lebensform stets charakterisiert: Nur keine Stille! Nur kein Moment des Schlafs! Immer und jede Sekunde den jagenden Pulsschlag vernehmen. Hektik, Lärm, Bewegung. Als sei jede Ruhe eine Vorform des Todes.
Und auf einmal ergötzte er sich am Anblick weidender Schafe. Genoß zutiefst die Stille eines einsamen Dorfs. Betrachtete voll Staunen und Freude die blühenden Apfelbäume eines Friedhofs. Friedhof! Allein die Tatsache, daß er nach Beendigung seiner
Mahlzeit freiwillig dorthin ging, zwischen den Gräbern herumschlenderte, dem Summen der ersten Bienen des Jahres lauschte und die verwitterten Grabsteine betrachtete, grenzte an
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