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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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nicht wirklich begreifen, was geschehen war. »Hoffentlich …« Er sprach nicht weiter, aber Ricarda erriet, was er hatte sagen wollen. Sie strich ihm vorsichtig über den Arm, aber er zuckte dennoch unter der plötzlichen Berührung zusammen.
    »Mach dir keine Vorwürfe«, tröstete sie, »das hatte bestimmt nichts mit eurer Auseinandersetzung zu tun.«

    Er nickte, aber er schien nicht überzeugt.
    »Ich muß mich um Mummie kümmern«, sagte er, »sie ist ziemlich fertig.«
    »Ist deine Schwester nicht da?«
    »Die ist wohl heute früh nach Bradford gefahren. Keine Ahnung, was sie da macht. Jedenfalls ist sie nicht zu erreichen. Hör zu, ich …«
    »Klar. Du wirst hier jetzt gebraucht. Kümmere dich nicht um mich. Ich komm schon klar.«
    Die Verzweiflung drohte über ihr zusammenzuschlagen, aber noch immer erlaubte sie es sich nicht, einfach zu weinen.
    »Wo gehst du hin?« fragte er.
    »Noch keine Ahnung«, sagte sie, zog ihren Rucksack aus dem Auto und schulterte ihn mit einer Entschlossenheit, die sie in Wahrheit nicht fühlte. »Ich werd mal sehen …«
    Er hörte schon gar nicht mehr hin, strebte wieder dem Haus seines Vaters zu, ein junger Mann, der sich wie eine Marionette bewegte und nicht wußte, wie er mit der Situation umgehen sollte, in die er sich plötzlich gestellt sah.
    Ricarda ging los, mit bleischwerem Herzen. Der Gedanke, nach Stanbury zurückzukehren, erschien ihr unerträglich. Die Gesichter wiedersehen, die Menschen wieder ertragen, Patricias Heimtücke zu erleben, Alexanders Schwäche, Tims Gehässigkeit und Evelins Leid … Und zu wissen, daß in J.s Bauch ein Baby wuchs, das Kind ihres Vaters, ihres einzigen, geliebten, gehaßten, enttäuschenden Vaters …
    Endlich konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Sie sank am Rande des Feldwegs ins hohe Gras und krümmte sich im Schluchzen, gefangen in einer Verzweiflung, in der sich Schmerz und namenlose Wut gleichmäßig mischten.
    Sie sah keinen Ausweg mehr.

Zweiter Teil

    Er war schon ziemlich weit an das Haus herangekommen, ohne daß ihn jemand bemerkt hatte. Er hatte sich durch den hinteren Teil des Parks genähert, nicht durch das Tor, weil er hoffte, auf diese Weise ungestörter zu sein. Eine ganze Weile hatte er mitten im Dickicht auf einem Baumstumpf gesessen und das Haus betrachtet, die Terrasse mit ihren Stufen zum Garten, die Fensterreihen, den Dachgiebel. Er hatte an die zwanzig Grasketten geknüpft und um sich herum verteilt, ohne es zu merken. Schließlich stand er auf und wagte sich näher heran, weil er nirgendwo eine Menschenseele erblicken konnte. Flüchtig fragte er sich, wie es wohl auf andere gewirkt hätte, was er hier tat: Schlich im Gebüsch herum, fixierte ein Haus, tastete sich heran. Wie ein Täter an sein Opfer. War es bereits paranoid, was er hier tat?
    Da er nicht plötzlich auf der Wiese hinter der Terrasse stehen wollte - gut sichtbar für jeden, der zufällig aus dem Fenster blicken würde -, schlug er einen seitlichen Bogen und pirschte sich von Südwesten an das Haus heran. Ziemlich spät bemerkte er die Frau, die auf einem flachen Felsstein saß und ihr Gesicht in die Sonne hielt. Zu spät, denn sie hatte das Knacken eines Zweigs vernommen und wandte sich um. Er erkannte die Dicke. Wie hieß sie noch? Sie war ihm vom ersten Moment an aufgefallen, allerdings nicht wegen ihrer beachtlichen Leibesfülle, sondern wegen des Ausdrucks der Trostlosigkeit in ihren Augen.
    »Ach, Sie sind es«, sagte sie. Sie schien nicht erschrocken.

    Er trat näher. »Ich kann mich einfach nicht recht losreißen«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln, »es zieht mich immer wieder hierher.«
    Sie lächelte ebenfalls. Selbst ihr Lächeln war traurig, fand er.
    »Sie haben keine Chance«, sagte sie, »nicht gegen Patricia.«
    »Oh, das wird sich finden. Wissen Sie, so schnell gebe ich mich nicht geschlagen. Wenn es stimmt, was meine Mutter mir gesagt hat, dann gehört mir die Hälfte dieses Anwesens, und dann werde ich das auch beweisen und durchsetzen.«
    »Vielleicht«, sagte sie ohne jede Überzeugung.
    Er wies auf den Felsen, auf dem sie saß. »Darf ich mich einen Moment ausruhen?«
    Sie rückte bereitwillig ein Stück zur Seite. »Ja.«
    Er setzte sich auf den warmen Stein. »Ein friedliches Plätzchen«, meinte er. »Kommen Sie öfter hierher?«
    »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich bin ich meistens im Haus. In der Küche. Ich …« Sie unterbrach sich, verzog das Gesicht. »Das sieht man, oder? Daß

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