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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Und natürlich auch, was sie mit mir vorhaben… bitte, o Thekmur.«
    Fast konnte sie Thekmurs Seele vor sich in der Luft schweben sehen. Bei jedem Besuch in der Kapelle wurde Thekmur ein wenig deutlicher sichtbar. Koshmar hoffte, daß die Zeit kommen werde, da Thekmurs Erscheinung für sie so lebendig und fest werden würde, wie es ihr eigener Arm war.
    Thekmur war eine kleine, massige Frau gewesen, sehr stark in Körper und Geist, mit einem ergrauten Pelz und grauen Augen, die ruhig und stetig der Welt entgegenblickten. Sie hatte viele Männer geliebt, aber auch viele Frauen, und sie hatte über den Stamm geherrscht, ruhig und in selbstverständlicher Sicherheit, bis ihr Todestag nahte; und dann war sie ohne den leisesten Schauder aus der Schleusentür des Kokons gegangen. Manchmal gestand sich Koshmar ein, daß sie selber nur ein bleicher schattenhafter Abklatsch von Thekmur sei, ein schwacher Ersatz für die dahingegangene Stammesführerin; allerdings, derartig düstere Gedanken überkamen Koshmar nur selten.
    »Die Götter wollen nicht zu mir sprechen«, beklagte sie sich bei Thekmur. »Ich sende den Knaben Hresh hinaus, und er findet nichts, und nun hat er etwas gefunden, aber bisher ist nichts von Nutzen daraus gekommen. Und es gab ein furchtbares Unwetter, und während dieses Unwetters zerriß der Himmel, und die Feuerblitze waren schrecklich. Was hat das alles zu bedeuten? Worauf warten wir denn hier? Antworte mir doch, o Thekmur! Nur dies einemal, antworte mir!«
    Der Rauch kräuselte sich in die Höhe, und das blasse Abbild Thekmurs wirbelte dahinter in der Dunkelheit. Aber Thekmur sprach nicht, oder wenn sie sprach, so konnte doch Koshmar die Worte nicht hören.
    Nur allmählich, Stückchen für Stückchen, war es Koshmar im Verlauf der verflossenen Monde bewußt geworden, daß sie mehr und mehr in eine graue farblose Verzweiflung versinke, oder doch in einen Zustand, der Verzweiflung so nahe, wie sie es zu empfinden vermochte. Dem Leben war der Antrieb nach vorn, die Zielstrebigkeit verloren gegangen, hier in Vengiboneeza. Alles schien stillzustehen und auf der Stelle zu treten. Und das Glücksgefühl, das sie in der ersten Zeit durchströmt hatte, während sie das Neue Leben in der Stadt organisierte, war inzwischen völlig dahingeschmolzen.
    Im Kokon erwartete man, daß alles auf ewig unbeweglich und unveränderlich bleibe, statisch und im ausgewogenen Stillstand. Niemand stellte dieses Leben in Frage. Man wuchs heran, man tat genau, was einem zu tun aufgetragen wurde, man hielt sich an die Gebote der Götter, und man wußte, daß man zu seiner an- und zugemessenen Zeit sterben mußte, so daß andere den freigewordenen Platz einnehmen könnten; aber man begriff auch gleichfalls stets und immer, daß das eigene persönliche Leben vom ersten bis zum letzten Tag sich innerhalb der starren schützenden Mauern des Kokons abspielen werde und daß es in keinem grundlegenden Punkt verschieden sein könne von dem Leben, welches die Großeltern oder die Großeltern der Großeltern in ferner Vergangenheit über Tausende und Abertausende Jahre gelebt hatten. Ziel und Zweck deines Individuallebens war es nur, das ‚Leben des Volkes’ weiterzutragen, ein Glied zu werden in der gewaltigen Verkettung der Zeitalter, die sich von der Epoche der Großen Welt dehnte bis zu der erhofften, erwarteten Neuen Frühlingszeit. Man erwartete als Individuum nicht, daß man selbst diesen Jungen Frühling noch erleben werde; aber ebenso wenig glaubte man an ein persönliches Leben außerhalb des Kokons.
    Nun aber war (ungeachtet der gelegentlich aufsteigenden Zweifel) der Neue Frühling erschienen. Die Welt entfaltete sich wie eine Knospe zur Blüte. Und das Volk war aufgebrochen und dem entgegen gewandert. Der geweissagte erste Schritt aber, die erste Etappe in diesem Großen Auszug sollte der Aufenthalt in Vengiboneeza sein, und bisher hatte dieser Aufenthalt nichts weiter gebracht als Unruhe, Unbehagen und Unsicherheit. Sogar ihre Menschlichkeit war in Zweifel gezogen worden – durch jene abscheulichen verächtlichen Lügner, diese Künstlichen der Saphiraugen am Tor. Und obwohl Koshmar absolut überzeugt war, daß die Behauptung dieser drei seltsamen Wächter, daß das Volk nicht zu den Menschlichen gehöre, völliger Unsinn sein mußten, obwohl, wie sie argwöhnte, für einige der anderen im Stamm dieses Problem noch ungelöst blieb und Anlaß bot für eine große Angst und Aufgeregtheit des Herzens.
    »Wie kann ich den Lauf

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