Am Ende des Winters
der Dinge beeinflussen?« fragte Koshmar die Frau, die vor ihr geherrscht hatte. »Mein Leben rauscht an mir vorbei; ich will die Welt mit meinen Armen an mich reißen, nun da sie uns gehört. Ich bin ungeduldig, Thekmur, ich komme mir eingesperrt vor, als lebten wir immer noch im Kokon!« Etwas in ihrem Wesen sehnte sich danach, aus dieser Stadt fortzuziehen, weiterzuziehen, auch wenn sie nicht wußte, wohin; und dennoch verspürte sie gleichzeitig den Zauber Vengiboneezas über sich und fürchtete sich davor, hier fortzugehen, während sie gleichzeitig ein Sehnen nach neuen Wagnissen in der Fremde und weit fort in der Seele brannte.
Koshmar wußte, daß viele vom Stammesvolk hier durchaus glücklich und zufrieden waren. Aber diese waren Menschen, die überall glücklich und zufrieden sein würden. Anstelle des bedrängten, intensiven nach innen gewandten Lebens in der Welt des Kokons bot sich ihnen jetzt eine ganze gewaltige Stadt als Bühne. Sie hatten ein angenehmes Leben – aus den Gärten, die sie hier angelegt hatten, strömte Nahrung im Überfluß, und es gab Fleisch genug, das die Krieger von den Hängen des ‚Frühlingsberges’, wie Hresh ihn getauft hatte, nach Hause brachten, wo es Wild aller Art zuhauf gab und die Jagd leicht war. Für diese Leute im Stamm war es eine Zeit des Frohlockens und der Leibesseligkeit. Sie tvinnerten, sie sangen und sie spielten. Sie paarten sich und brachten Nachkommen hervor. Die Zahl der Stammesangehörigen war bereits über siebzig, und in kurzem war mit der Ankunft weiterer Kinder zu rechnen. Und allesamt durften sich auf ein üppiges und angenehmes Leben freuen, ohne daß die grimmige Aussicht auf ein grausames Grenzalter nun ihr Glück schmälern konnte.
Andere allerdings waren nicht aus solchem milch-suppensanften Material. Koshmar erkannte durchaus, daß beispielsweise Harruel vor Ungeduld und Gier nach Veränderung geradezu kochte. Konya und einige der Jungmänner, wie Orbin, schienen mehr und mehr in seine Richtung zu treiben und unter seinen Einfluß zu geraten. Und Hresh, der allmählich zum Mann heranwuchs, war ihr mehr denn je ein Rätsel. Das Mädchen Taniane entpuppte sich auf einmal als Ränkeschmiedin, als Flüsterpropagandistin und ausgekochte Ausbrüterin von Träumen. Man konnte den Ehrgeiz direkt in ihren Augen funkeln sehen. Aber worauf richtete sich ihr Ehrgeiz?
Selbst Torlyri wirkte inzwischen abweisend und war wie eine Fremde. Sie tvinnerten jetzt nur noch selten, und wenn sie es taten, war es irgendwie eine verkrampfte, unergiebige Angelegenheit. Koshmar wußte, daß Torlyri sich partnerpaaren wollte; aber sie enthielt sich dem, vielleicht weil sie das Gefühl hatte, daß dadurch ihre Beziehung zu Koshmar leiden müsse, vielleicht weil sie als die Opferfrau des Stammes nicht absehen konnte, wie sie damit die Funktionen einer Ehepartnerin und Mutter würde in Einklang bringen können. Oder aber sie glaubte vielleicht, daß es im Volk keine Männer gebe, mit denen sie sich als passende gleichrangige Partnerin verbinden könne, nachdem sie so lange Zeit ihre Priesterin gewesen war. Was immer es sein mochte, es bewirkte Störung und Verstörung in Torlyri: und alles, was Torlyri beunruhigte, beunruhigte auch Koshmar.
»Was könnte ich tun, damit du zu mir redest?« flehte sie Thekmur an. »Soll ich einem der Götter ein besonderes Opfer darbringen? Soll ich auf Pilgerschaft gehen? Soll ich Torlyri hierher bringen, und wir tvinnern und kommen euch dabei nahe?«
Aus irgendeiner Ritze in der Wand tauchte ein kleines Geschöpf auf, ein schmales blaues Tierchen mit schimmernder Schuppenhaut, langen zierlichen Beinen und leuchtend goldenen Augen. Beim Anblick Koshmars hielt es inne, schnüffelte in die Luft und richtete sich hoch auf den dünnen Beinchen auf und betrachtete sie eindringlich. Es war etwas Stilles und Sanftes an dem Geschöpf, der feuchte Blick war ruhig und ohne Furcht.
»Bist du zu mir gesandt?« fragte Koshmar.
Das Tier beobachtete sie weiter schnüffelnd.
»Was bist du für ein Geschöpf? Hresh würde das wissen – oder doch so tun, als ob, und dir deinen Namen geben. Aber das kann ich auch selbst tun. Du bist das Thekmur, ja? Gefällt dir der Name? Thekmur war eine große Führerin. Sie fürchtete nichts, genau wie du.«
Das Thekmur schien zustimmend zu lächeln.
»Und sie war eine Führerin, die alles aushielt, genau wie du alles ausgestanden haben mußt«, sprach Koshmar weiter. »Denn du hast den Langen Winter durchlebt,
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