Am Ende des Winters
mir die Umgrenzung und Ausmaße des Unwetters gezeigt. Nach Osten und Westen hin ist alles frei und klar, und die angrenzenden Lande sind sämtlich unbetroffen und freundlich. Es ist also keine Wiederkunft des Langen Winters, und es ist auch kein neuer Todesstern niedergestürzt. Es ist nur ein Gewitter, Koshmar, ein sehr schweres Unwetter, aber es wird nicht mehr lange anhalten. Wir haben nichts zu befürchten.«
Und tatsächlich, nach wenigen Stunden wurde der Sturm schwächer, der Donner verstummte, der Regen ließ nach, und in der Schwärze droben brachen Flecken blauen Himmels auf.
8. Kapitel
Ein großes Ding
Nach dem Unwetter wurde es in Vengiboneeza sogar noch wärmer, als es zuvor gewesen war. Auf den Hügeln und Hängen über der Stadt brachen Dutzende von Blumen in wilden Farbenräuschen hervor, die Bäume wuchsen so rasch, daß man ihre Zweige sich fast wie Arme ausbreiten sehen konnte, und die Luft war erfüllt von schweren Düften. Es war fast so, als wären diese drei Tage des schwarz-verfinsterten Himmels und der krachenden Gewitter nur das letzte konvulsivische Aufzucken des Langen Winters gewesen und als sei nun wahrhaftig der Junge Frühling angebrochen und werde ewiglich währen.
Koshmar jedoch steckte voller Unruhe, und ihre Bekümmerung vertiefte sich von einem Tag zum nächsten immer mehr.
Es gab da einen versteckten Ort, den sie in einem zerstörten Stadtteil gefunden und sich erwählt hatte, einen Ort, den sie als ‚meinen Schrein’ bezeichnete und den sie so geheim hielt, daß nicht einmal Torlyri davon wußte. An diesen Ort ging sie, wenn sie sich unsicher fühlte oder des Beistands der Götter oder ihrer Vorgängerinnen im Führertum besonders bedurfte – kurz, es war ein Ersatz für ihren Schwarzen Stein daheim in der Zentralkammer des Kokons.
Zu Beginn war dieser Schrein, ihre Kapelle, für sie nichts weiter als eine Ablenkung gewesen, ein Ort heiterer Entspannung, den sie in weitbemessenen Abständen aufsuchte und manchmal wochenlang vergaß. Nun jedoch fühlte sich Koshmar beinahe täglich zu diesem Ort hingezogen und schlich sich heimlich in den frühen Morgenstunden, oder spät in der Nacht, oder zuweilen gar mittags davon, anstatt ihre Pflichten als Richterin zu erfüllen, wie es sich für eine Stammesführerin gehörte.
Um zu ihrer Kapelle zu gelangen, wandte Koshmar sich ein Stück weit ostwärts den Bergen zu, dann nach Norden und vorbei an einem uneinladenden Stumpf von einem schwarzen Turm, der als Oberrest eines urzeitlichen Erdbebens dort aufragte, sodann fünf bestürzend steile Treppenfluchten hinab, die auf einen flachen schalenförmigen Platz führten, der mit rosa Marmorplatten gepflastert war. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes standen fünf intakte und sechs eingebrochene Bögen, deren jeder einmal der Zugang zu einem von elf Räumen gewesen sein mußte, die in den Tagen der Großen Welt von hohem Zeremonialcharakter gewesen sein mußten. Nun waren diese Räume leer; doch alle außer zweien oder dreien waren noch mit reichen vergoldeten Wandreliefs geschmückt, Darstellungen absonderlicher, schöner Gestalten mit beinahe menschlich wirkenden Leibern und Gesichtern von Sonnen, Darstellungen gespenstischer Tiere mit langgestreckten Gliedmaßen und solchen von Girlandenkränzen ineinander verschlungener langstieliger unirdischer Pflanzen. Zu diesen Kammern führten auf Zapf angeln ruhende steinerne Türen.
Koshmar hatte durch Zufall herausgefunden, wie sich diese Türen bewegen ließen, und sie hatte sich die mittlere der elf Kammern ausgewählt und dort ihre ‚Kapelle’ eingerichtet. Sie hatte dort einen kleinen Altar gebaut und um ihn herum Gegenstände von ritualistischer Wichtigkeit oder von starkem Gefühlswert angeordnet; und hier kniete sie in keuscher klosterhafter Klausur und sprach mit den Göttern – oder eigentlich meistens mit Thekmur, die vor ihr Führer des Stammes gewesen war.
So kniete sie eben jetzt und häufte vertrocknete Blüten zu einem Arrangement, das sie dann entzündete.
Der duftende Rauch stieg aufwärts – zu Thekmur. Koshmar trug die altelfenbeinerne Maske der vorherigen Führerin, Sismoil, ein flaches schimmerndes Stück mit nur zwei sehr knappen Sehschlitzen für die Augen.
»Wie lange noch wird es währen«, fragte sie die tote Stammesführerin, »bis wir herausfinden, warum wir hier sind? Du sitzest nun bei den Göttern, o Thekmur. So sag mir denn an und künde mir, was uns die Götter im Ratschluß bereiten.
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