Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
werden könnte. Keines dieser Dinge war möglich. Aber wir leben in einer Zeit voller zahlreicher Absonderlichkeiten, dachte Koshmar. Also ist vielleicht wahr, was Hresh sagte, und hier war einer, der mit anderen Wörtern redete, sofern er überhaupt reden konnte.
    Sie wandte sich Hresh zu und sagte barsch: »Also gut. Du bist unser Sprachexperte. Setze also dein Zweites Gesicht ein und finde heraus, wer er ist und was er hier sucht!«
    Hresh trat vor und stellte sich direkt vor den behelmten Fremdling.
    Noch nie im Leben war er dermaßen müde gewesen. Was war das doch für ein Tag heute! Und noch war er nicht zu Ende. Aller Augen ruhten auf ihm. Er war gar nicht sicher, daß er das Zweite Gesicht noch einmal einsetzen können würde, so müde war er.
     Der Behelmte blickte von seiner großen Höhe kühl und gleichgültig auf Hresh nieder, als wäre dieser weiter nichts als irgendein lästiges kleines Dschungeltier. Die gespenstischen roten Augen leuchteten in beunruhigend hellem Feuer. Hresh bildete sich ein, Zorn darin zu entdecken, Verachtung und ein festes Selbstwertgefühl. Aber keine Furcht. Nirgends ein Hauch von Furcht. Der behelmte Fremde wirkte irgendwie heldenhaft halbgöttlich.
    Hresh raffte seine Kraft zusammen und sandte sein Zweites Gesicht aus.
    Er erwartete, auf irgendwelchen Widerstand zu stoßen, einen Versuch, seinen Stoß abzufangen oder abzulenken, wenn dies möglich war. Doch der Fremde nahm mit unverändert kühlem Gleichmut Hreshs Annäherung entgegen, und dessen Bewußtsein tauchte leicht und tief in das des Helmträgers hinab.
    Die Berührung dauerte kaum länger als den Bruchteil einer Sekunde.
    Aber in diesem Augenblick erfuhr Hresh einen Eindruck von der großen Seelenstärke des Mannes, von seiner Charakterfestigkeit und seiner unbeugsamen Zielstrebigkeit. Er schaute auch in einem bruchstückhaft verhuschenden Moment die Vision einer Horde anderer Leute, die ähnlich aussahen wie dieser Mann hier, einen Trupp von Kriegern, auf einem dichtbewaldeten Hügel versammelt, sämtlich mit ähnlich ausgefallenen grotesken Helmen bedeckt wie er, von denen jedoch jeder besonders gestaltet war. Dann riß der Kontakt ab, und alles ringsum wurde finster. Hresh fühlte, wie ihm die Glieder zu Wasser wurden. Er taumelte torkelnd rückwärts, drehte sich im letzten Moment um sich selbst und landete platt auf dem Bauch vor Harruels Füßen. Und dies war das letzte, was ihm für lange Zeit bewußt war.
    Als er wieder erwachte, lag er in Torlyris Armen, und sie befanden sich am anderen Ende des Gemachs. Sie drückte ihn an sich und summte beschwichtigend auf ihn ein. Nach und nach sah er wieder deutlicher, und da bemerkte er, daß Koshmar den Helm des Fremdlings mit beiden Händen festhielt und ihn mit merkwürdigem Gesicht betrachtete. Der Fremde lag schlaff auf dem Boden, und Harruel und Konya hatten ihn an den Fußknöcheln ergriffen und zerrten ihn ohne weiteres, als wäre er ein Sack Korn, aus dem Raum.
    »Versuch noch nicht auf den Beinen zu stehen«, murmelte Torlyri. »Warte, bis du das Gleichgewicht wieder hast, und atme tief durch.«
    »Was ist passiert? Wo bringen sie ihn hin?«
    »Er ist tot«, sagte Torlyri.
    »Ist im selben Augenblick zusammengebrochen, in dem du seinen Geist berührt hast«, sagte Koshmar von gegenüber. »Genau wie du. Wir dachten schon, ihr seid alle beide dahin. Aber du warst bloß bewußtlos. Er dagegen war tot, ehe er den Boden berührte. Das geschah, um das Verhör zu vermeiden, verstehst du? Er konnte sich irgendwie allein durch seinen Geist töten.« Sie rammte zornig den Helm auf das Bord, auf dem ihre Trophäen lagen. »Und jetzt werden wir nie das Geringste über ihn herausfinden«, sagte sie. »Wir werden nichts wissen, gar nichts.«
    Hresh nickte düster.
    Ihm fuhr der Gedanke durch den Kopf, daß dies irgendwie seine Schuld sei, daß er mit irgendeinem Schutzmechanismus hätte rechnen müssen bei dem Fremden, daß er sich nie dazu hätte hinreißen lassen dürfen, Koshmar zu einem Verhör mit Einsatz des Zweiten Gesichts zu überreden.
    Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich statt dessen den Wunderstein benutzt hätte, sagte er sich.
    Aber wie hätte er das wissen sollen? Thaggoran hätte es vielleicht gewußt, aber er selbst, er stellte es immer wieder fest, er war eben kein Thaggoran. Ich bin noch dermaßen jung, dachte er kläglich. Nun, dem würde die Zeit abhelfen. In ihm breitete sich eine tiefe Betrübnis aus. Er hätte von diesem Mann vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher