Am Ende des Winters
Verhörversuche. »Aber wir bekommen nichts aus ihm raus. Er tut so, als verstünde er kein Wort von dem, was wir sagen.«
»Tut so? Was aber, wenn er wirklich nichts versteht?«
»Du meinst also, er ist dumm wie ein Tier?«
»Ich meine, daß er eine andere Sprache spricht.«
Koshmar starrte ihn verwirrt an. »Eine andere Sprache? Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, ‚eine andere Sprechen’.«
»Es bedeutet – also eben eine andere Sprache«, sagte Hresh stockend. Seine Hände fuhren wie suchend in die Höhe. »Wir haben unsere Sprache, eine bestimmte Reihe von Lauten, mit denen wir Vorstellungen vermitteln. Also, stell dir mal vor, diese Leute da benutzen verschiedene Lautgruppen, verstehst du? Wo wir ‚Fleisch’ sagen, sagt sein Stamm vielleicht ‚Mruk’ oder ‚Prosh’.«
»Aber das sind doch Laute ohne Bedeutung«, warf Koshmar ein. »Was für einen Sinn hat denn…«
»Für uns ergeben sie keinen Sinn«, sagte Hresh. »Aber sie könnten sehr wohl für andere Leute sinnvoll sein. Nicht gerade diese Laute. Die habe ich bloß so als Beispiele erfunden, verstehst du? Aber sie könnten doch ihr eigenes Wort für ‚Fleisch’ haben – oder für ‚Himmel’ – und für ‚Speer’ undsoweiter. Andere Wörter als wir für alles.«
»Aber das ist ja blödsinnig«, fuhr Koshmar ihn ärgerlich an. »Was soll das heißen, ein Wort für ‚Fleisch’? Fleisch ist Fleisch. Nicht Mruk, nicht Prosh, sondern Fleisch! Und Himmel ist eben Himmel. Ich hatte geglaubt, du könntest uns irgendwie weiterhelfen, Hresh, aber du gibst mir bloß blöde Rätsel auf.«
»Diese Vorstellungen sind auch für mich sehr fremdartig«, sagte der Junge. Er schien ungewöhnlich müde zu sein, als habe er Schwierigkeiten, seine Gedanken auszudrücken. Immer wieder fuhren die Hände wie suchend in die Luft. »Ich habe nie eine andere Sprache als die unsere gehört, ja nicht einmal daran gedacht, daß es eine andere geben könnte. Der Gedanke kam mir einfach so in den Kopf, während ich diesen Fremden ansah, aus dem Nichts. Aber denk doch mal nach, Koshmar, wie wenn die Hjjk-Leute eine eigene Sprache haben – und alle anderen Tierarten ebenfalls eine eigene – und jeder Stamm, der den Langen Winter überlebt hat, ebenfalls! Wir waren so lange allein und abgeschnitten von anderen, tausendmal und abertausendmal hundert Jahre lang. Vielleicht redete im Anfang jedermann in einer einzigen Sprache, aber im Verlauf einer dermaßen langen Zeit, Tausende von hundert Jahren…«
»Ja, vielleicht«, sagte Koshmar unsicher. »Aber wenn das so ist, wie sollen wir uns dann mit diesem Mann verständigen? Denn irgendwie müssen wir das ja wohl. Wir müssen herausbekommen, ob er ein Freund ist oder ein Feind.«
»Wir könnten es mit dem Zweiten Gesicht versuchen«, sagte Hresh nach kurzem Nachdenken.
Bestürzt blickte Koshmar ihn an. »Das Zweite Gesicht darf man nicht unter Leuten anwenden.«
»In Extremfällen darf man«, sagte Hresh mit gespanntem Gesichtsausdruck. »Wir müssen hier an die Sicherheit des Stammes denken. Müßten wir darum nicht sämtliche Fähigkeiten einsetzen, über die wir verfügen, um herauszufinden, was wir wissen müssen?«
»Aber es ist ein derart schwerer Verstoß gegen…«
Koshmar brach ab. Sie schüttelte den Kopf. Dann blickte sie zu Torlyri, die an der Tür stand.
»Was sagst du dazu? Ist es geziemend, so was zu versuchen?«
»Es ist gewiß unüblich. Aber ich sehe kein Fehl daran«, sagte die Opferfrau nach kurzem Nachdenken mit etwas unsicherer Stimme. »Er gehört nicht zu unserem Stamm. Also haben unsere Bräuche keine Gültigkeit – wahrscheinlich. Und wir laden dabei keine Schuld auf uns.«
»Die Götter schenkten uns die Gabe des Zweiten Gesichts, um uns zu helfen, wo Sprache und Sehen versagen«, sprach Hresh zu Koshmar. »Wie könnten sie etwas dagegen haben, wenn wir ihr Geschenk in einer Lage wie der jetzigen benutzen?«
Schweigend überlegte Koshmar. Der Fremdling verhielt sich weiter teilnahmslos und gab durch nichts zu erkennen, ob er irgend etwas begriffen hatte. Vielleicht spricht er tatsächlich in einer uns völlig fremden Zunge, dachte Koshmar. Die Vorstellung bereitete ihr Kopfschmerzen. Es kam ihr als ebenso absonderlich vor wie die Vorstellung, daß jemand am einen Tag Mann und am nächsten Frau sein könnte, oder daß der Regen von der Erde nach oben steigen könnte, oder daß ihr mit einem Lidschlag Yissous Segen entzogen und ein anderer zum Häuptling an ihrer Statt ernannt
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