Am Ende des Winters
Torlyri hatte es gehört. Thaggoran hatte es gehört. Und dieser Hresh hatte es auch gehört – und sie, Koshmar, ebenfalls. Aber durfte man einem derart grotesken Gurgeln Glauben schenken? Ihm trauen? War wirklich und wahrlich das Ende des Winters gekommen? Die Wahrsprüche weissagten es so. Und es gab die Eisfresser als zusätzlichen Hinweis; und war diese ungewöhnliche Unrast nicht auch ein Zeichen, die den Stamm befallen hatte? Und nun dies. Aaaah! So sei es denn, flehte Koshmar. Yissou, laß es zu meiner Zeit geschehen! Gönn mir die Gunst und laß es zu, daß ich das Volk voran und in das freie Licht der Sonne führe!
Sie blickte sich sorgsam um. Es war untersagt, Ryyig Träumeträumer auch nur im geringsten zu stören. Aber vieles, was verboten war, schien inzwischen erlaubt zu sein. Es war keiner außer ihr in der Kammer. Sacht senkte sich die Hand auf die nackte Schulter des Träumeträumers. Wie fremdartig sich diese Haut anfühlte! Wie ein altes abgewetztes Stück Leder, erschreckend weich, zart, verletzlich. Sein Leib glich keinem der andern im Volk: er war vollkommen pelzlos, ein nackthäutiges rosighäutiges Geschöpf mit langen schmalen Armen und spillerigen spindeldürren schwachen Beinen, auf denen er nie einen Schritt weit irgendwohin hätte tun können. Und überdies – er hatte gar kein Sensororgan.
»Ryyig! Ryyig!« flüsterte Koshmar. »Tu deine Augen wieder auf! Und sag mir an, was zu sagen dir bestimmt ist!«
Es sah so aus, als bewegte er sich ein wenig in seiner Wiege, fast so als sei er ärgerlich darüber, daß sie sich in seinen Schlummer drängte. Die nackte Stirn furchte sich; die schmalen Lippen stießen ein schwaches Pfeifen aus. Die Augenlider blieben geschlossen.
»Ryyig? Sag mir: Ist die Zeit der niederstürzenden Sterne vorbei? Wird die Sonne wieder scheinen? Können wir ungestraft hinaus?«
Koshmar bildete sich ein, sie hätte seine Augenlider flattern sehen. Kühn rüttelte sie ihn an der Schulter, und dann erneut, heftiger, als wollte sie ihn gewaltsam aus seinem Schlaf rütteln. Ihre Finger gruben sich tief in das hagere Fleisch, und sie konnte die zarten Knöchlein dicht darunter fühlen. Ob Thekmur so etwas gewagt hätte? Oder Nialli? Wahrscheinlich nicht. Es war unwichtig. Koshmar rüttelte den Schläfer noch einmal. Ryyig gab einen leisen maunzenden Ton von sich, dann wandte er den Kopf von ihr ab.
»Aber du hast es doch vorher schon versucht und wolltest es sagen«, flüsterte Koshmar drängend. »So sag es doch! Der Winter ist gegangen… es kommt die Frühlingszeit… Sag es! So sag es doch!«
Und plötzlich hoben sich die dünnen bleichen Lider, und sie sah sich der Tiefe fremdartiger verzaubernder dunkelvioletter Augen ausgesetzt, über denen ein Schleier von Traum und Geheimnis lag, von denen sie sicher wußte, daß sie niemals auch nur einen Hauch von ihnen begreifen könnte. Die Gewalt dieser Augen – so dicht vor ihr – war dermaßen bestürzend, daß Koshmar unbewußt ein, zwei Schritte zurückwich. Doch sie faßte sich rasch wieder.
»Kommt!« rief sie. »Kommt alle her! Er wacht wieder auf! Kommt! Kommt und eilt euch!«
Die schmale zerbrechliche Gestalt in der Wiege schien sich erneut aufzurichten und senkrecht sitzen zu wollen. Koshmar schlang ihren Arm um den schmalen Rücken und zog den Körper herauf. Der Kopf wackelte, als sei er zu schwer für den Hals. Und wieder drang dieser gurgelnde Laut aus seiner Kehle. Koshmar beugte sich tief über ihn, das Ohr dicht an seinem Mund. Das Volk kam nun durch beide Eingänge in die Kammer hereingeströmt und sammelte sich dichtgedrängt um sie. Da war Minbain, und sie sah die kleine Cheysz und den Jungkrieger Salaman. Harruel kam wuchtig hereingestapft, schubste andere beiseite und glotzte mit glosenden Augen den Träumeträumer an.
Und dann redete Ryyig und sprach.
»Der… Winter…«
Die Stimme war schwächlich, aber die Worte unmißverständlich.
»Der… Winter…«
»… ist dahin«, soufflierte Koshmar. »Ja! Ja! Sag es doch! Sag: Was wartet ihr? Der Winter ist vorbei!«
Und ein drittesmal: »Der… Winter…«
Die schmalen Lippen quälten sich krampfhaft. In den hageren Kinnbacken zuckten Muskeln. Ryyigs Körper sackte schwer gegen Koshmars Arm; seine Schultern wurden von einem wellenartigen Beben überzogen… die Augen trübten sich und verloren alle Schärfe.
»Ist er tot?« fragte Harruel. »Ich glaub, er ist tot. Der Träumeträumer ist tot!«
»Er ist bloß wieder eingeschlafen«,
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