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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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berührte Hrongnir. Er hob an, die Anrufung zu singen: Sagt an, sagt an, sagt mir an…
    »Sag mir…«, erklang ein Stimmchen in seinem Rücken.
    Er hüpfte senkrecht in die Höhe, so betroffen war er, daß die Worte in seinem Geist plötzlich leibhaftig von außen in sein Gehör drangen. Unter der Tür zur Kammer stand Hresh und balancierte auf seine absonderliche Art auf nur einem Bein, stierte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, äffte ihn nach, war aber bereit, beim leisesten Stirnrunzeln die Flucht zu ergreifen. »Ich bitte dich, Thaggoran, sag es mir…«
    »Knabe, es ist nicht die Zeit für kecke Fragen!«
    »Was machst du da mit den Schimmersteinen, Thaggoran?«
    »Hast du nicht verstanden, was ich dir sagte?«
    »Och, ich versteh schon«, sagte Hresh. Seine Lippen bebten. Die riesigen unheimlichen Augen wurden feucht. Er begann zurückzuweichen. »Bist du zornig auf mich? Ich hab nicht gewußt, daß du Gewichtiges wirkst.«
    »Wir machen uns bereit, aus dem Kokon fortzuziehen. Verstehst du das?«
    »Ja. Ja.«
    »Und ich muß den Ratschluß der Götter erforschen. Ich muß herausfinden, ob unser Vorhaben erfolgreich sein wird.«
    »Und die Schimmersteine verraten dir das?«
    »Wenn ich die Fragen richtig stelle, dann werden sie mir die richtige Antwort geben«, sagte Thaggoran.
    »Darf ich zuschauen?«
    Thaggoran lachte. »Du hast den Verstand verloren, Junge!«
    »Wirklich? Meinst du, ich bin verrückt?«
    »Komm her zu mir!« sagte der Chronist. Er krümmte gebietend den Finger, und Hresh hüpfte in die Heilige Kammer. Thaggoran legte dem Kleinen den Arm um die Hüfte. »Als ich in deinen Jahren war«, sagte er, »sofern es dir möglich ist, dir auszumalen, daß ich einst jung war, so wie du es heute bist, war Thrask der Hüter der Chronik. Und wenn ich damals je gewagt hätte, hier hereinzuplatzen, während Thrask mit den Schimmersteinen beschäftigt war, dann hätte er dafür gesorgt, daß eine Stunde später mein Fell an Pflöcken zum Trocknen an der Wand ausgespannt gewesen wäre. Du hast verdammtes Glück, daß ich ein mildherzigerer Mann bin, als Thrask es war.«
    »Und warst du so wie ich, als du so alt warst wie ich?« fragte Hresh.
    »Kein Kind war jemals so wie du«, antwortete Thaggoran.
    »Was meinst du damit?«
    »Wir sind ruhige Leute, Knabe. Wir leben, wie man uns zu leben befohlen hat. Wir gehorchen den Gesetzen des Volkes. Du aber, du achtest auf nichts und keinen, nicht wahr? Du fragst Fragen, und wenn man dir bedeutet, den Schnabel zu halten, dann fragst du weiter, warum du ihn halten sollst. Aah, es gab vieles, was auch ich gern gewußt hätte, als ich ein Knabe war, und es kam auch die Zeit, da ich es erfuhr… Aber niemand ertappte mich jemals dabei, daß ich naseweis und neugierig spähte und schnüffelte, wo ich nichts zu suchen hatte. Ich habe gewartet, bis es an der rechten Zeit war, daß man mich lehrte. Das soll aber nicht heißen, daß ich nicht auch Wißbegier in mir verspürt hätte. Aber nicht so wie du. Bei dir ist die Neugier eine Krankheit. Diese deine Neugier hat dich neulich fast das Leben gekostet, bis du dir dessen bewußt?«
    »Meinst du wirklich, daß Koshmar mich diesesmal wirklich rausgeschickt hätte, Thaggoran?«
    »Ja. Ich glaube, das hätte sie.«
    »Und dann wäre ich – gestorben?«
    »Mit ziemlicher Sicherheit, ja.«
    »Aber jetzt gehen wir doch alle hinaus. Werden wir also alle dort sterben?«
    »Ein kleiner Junge wie du, du hättest dort allein keinen halben Tag überleben können. Aber der ganze Stamm – o doch, wir werden es durchstehen. Wir haben Koshmar, die uns führen wird, und wir haben Torlyri, die uns trösten wird, und Harruel, der uns beschützen wird.«
    »Und wir haben dich, der uns den Willen der Götter weisen wird.«
    »Noch eine kleine Weile länger wird dies so sein, ja«, sagte Thaggoran.
    »Ich verstehe dich nicht.«
    »Ja meinst du denn, ich würde ewig leben können, Kind?«
    Er hörte Hresh scharf den Atem einziehen. »Aber du bist doch jetzt schon so alt!«
    »Genau darum geht es. Ich bin dem Ende nahe. Begreifst du das nicht?«
    »Nein!« Hresh zitterte. »Wie kann das sein? Wir brauchen dich, Thaggoran. Brauchen dich. Du mußt einfach leben! Denn wenn du stirbst…«
    »Alles und jeder stirbt, Hresh.«
    »Koshmar wird sterben? Und – meine Mutter – sie wird sterben? Werde auch ich…?«
    »Alle sterben.«
    »Ich will aber nicht, daß Koshmar stirbt – oder du – oder Mutter Minbain. Oder irgendwer. Und besonders nicht

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