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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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seinem Platz hinter Koshmar und Torlyri her. Es pochte in seinem linken Knie, und beide Fußgelenke waren steif, und der schaurig-kalte Wind biß ihm durch den Pelz, als trüge er gar keinen. Seine Augen waren geschwollen und verklebt von der stechenden Sonne. Es gab kein Entrinnen vor diesem gewaltigen wütenden wabernden Licht. Es erfüllte das ganze Firmament und strahlte von jedem Fels, jedem Fleckchen Boden zurück.
    Es war eine schwere Mühsal für einen Mann von fast fünfzig Jahren, das kuschelige Wohlbehagen im wohnlichen Kokon preiszugeben und durch solch ungewohnte, abweisende Weltweite zu wandern. Doch war es gerade die Ungewohntheit, die Fremdartigkeit, die ihn vorantrieben, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Denn trotz all seines eifrigen Studiums in den Chroniken hatte er sich nie vorgestellt, daß es in der Welt derartige Farben, solche Gerüche, solche Formen geben könne.
    Das Land hier war rauh und nahezu leer, eine breite unfruchtbare Ebene. Ihre Abgestorbenheit wirkte entmutigend. Ringsum sah Thaggoran nur angstzerquälte Gesichter. Furcht hatte das ganze Volk ergriffen. Sie spürten eine schreckliche Nacktheit und Entblößung, nachdem sie ihren Kokon verlassen hatten und sich nun dermaßen weit entfernt von dem vertrauten Versteck befanden, das ihnen ihr Lebtag lang Schirm und Schutz und Heimat geboten hatten. Aber Koshmar und Torlyri mühten sich gewaltig, die drohende Panik von den Wandernden abzuwehren. Thaggoran sah, wie sie immer und immer wieder denen zuhilfe eilten, die von ihren Ängsten überwältigt zu werden drohten. Er selbst verspürte wenig Furcht, bestenfalls die vor der drohenden Erschöpfung; doch er zwang sich weiter und lächelte tapfer, wenn immer jemand zu ihm herblickte.
    Als der Tag verstrich, dunkelte der Himmel mehr und mehr: aus einem hellen harten Fahlblau blühte eine dunklere, üppigere Färbung, die dann, während die Schatten sich sammelten, fast purpurn und dann düstergrau wurde. Das hatte er nicht erwartet. Er wußte über die Gegebenheiten von Tag und Nacht aus den Chroniken, aber er hatte sich stets vorgestellt, die Nacht sinke herab wie ein Vorhang, der das Licht wie mit einem einzigen Hieb abschneidet. Daß sie langsam dahergeschritten komme durch die späten Stunden, daran hatte er nicht gedacht, ebensowenig daran, daß das Licht der Sonne sich gleichfalls verändern könne, über den Nachmittag hin immer rötlicher würde, bis dann, wenn das Firmament sich gerade grau zu färben begann, die Sonne sich in einen prallen roten Ball verwandelte, der dicht über dem Horizont schwebte.
    Spät am Nachmittag des ersten Tages, als gerade die langen Purpurschatten über das Land zu kriechen begannen, war die vorderste Marschlinie auf drei große vierbeinige Bestien gestoßen, Tiere mit mächtigen spießartigen Hörnern, die scharlachrot in Dreierpaaren von ihren Schnauzen hervorragten. Sie weideten anmutig an einem Hang und bewegten sich dabei mit achtsam hochbeinigen Schritten, als tanzten sie einen feierlichen Tanz. Doch bei der ersten Witterung, die sie von den Menschen bekamen, rissen sie entsetzt die Köpfe empor und stoben in wilder Flucht mit verblüffender Schnelligkeit über die Ebene davon.
    »Hast du die gesehen?« fragte Koshmar. »Was waren das für Geschöpfe, Thaggoran?«
    »Weidende Tiere«, sagte er.
    »Aber wie lautet ihr Name, Alter Mann! Wie heißen sie, diese Geschöpfe?«
    Er kramte in seinem Gedächtnis. Das »Bestiarium« sagte nichts über langbeinige Geschöpfe mit dreipaarigen langen roten Stacheln auf den Nasen.
    »Ich glaube, sie sind wohl während des Langen Winters erschaffen worden«, brachte Thaggoran vor. »Es sind keine Tiere, wie es sie in der Großen Welt gab.«
    »Bist du dir ganz sicher?«
    »Ja. Es handelt sich um unbekannte Geschöpfe«, sagte Thaggoran hartnäckig.
    »Dann müssen wir ihnen aber einen Namen geben«, sagte Koshmar entschlossen und bestimmt. »Wir müssen allem einen Namen geben, das wir sehen. Denn, Thaggoran, wer weiß, vielleicht sind wir das einzige Menschenvolk, das es noch gibt. Also wird die Benennung mit Namen eine unserer Aufgaben sein.«
    »Und das ist eine gute Aufgabe«, sagte Thaggoran, aber er dachte dabei an den brennenden Schmerz in seinem linken Knie.
    »Also, welchen Namen sollen wir ihnen geben? Na, komm schon, Thaggoran, nenn uns einen Namen für sie!«
    Er hob den Blick und sah die hohen graziösen Tiere in scharf gezeichneten Silhouetten vor dem dunklen Himmel auf dem Kamm eines fernen

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