Am Ende des Winters
Namen Mueris vor sich hin. Koshmar, den Speer im Anschlag, stapfte auf und ab auf der Suche nach weiteren Angreifern, aber es gab keine mehr. Tote Rattenwölfe lagen überall verstreut umher. Sie wurden bereits steif, und sie sahen im Tod noch scheußlicher aus, als sie es lebend getan hatten.
»Jemand verwundet?« fragte Koshmar. »Meldet euch, wenn ich euch beim Namen rufe! Thaggoran?«
Es kam keine Antwort.
»Thaggoran?« rief sie noch einmal, weniger selbstsicher.
Und wieder kam von Thaggoran keine Antwort. »Such ihn!« befahl sie Torlyri. »Harruel?«
»Hier!«
»Konya?«
»Konya, zur Stelle!«
»Staip?«
»Staip, jawoll!«
Als Hresh aufgerufen wurde, konnte er kaum sprechen, so benommen war er von allem, was sich an diesem Abend ereignet hatte. Aber es gelang ihm, seinen Namen heiser krächzend zu flüstern.
Schließlich ergab die Volkszählung, daß alle Stammesmitglieder vorhanden waren – außer zweien, nein, eigentlich dreien, denn eine der Toten war Valmud, eine sanftmütige, wenn auch nicht übermäßig mit Intelligenz gesegnete junge Frau, die zu einer der Fortpflanzungspaarungen gehört hatte; und sie hatte in ihrem Leib ein Ungeborenes getragen. Das war schwer genug für das Volk, doch der andere Tote war geradezu eine Katastrophe.
Und es war Hresh, der ihn fand. Er lag niedergestreckt inmitten abgestorbenen, stacheligen Unkrauts, nicht weit vom Lagerrand entfernt. Thaggoran-der-Alte-Mann hatte sich tapfer gewehrt. Der Wolf, der ihm die Kehle aufgerissen hatte, lag mit herausquellenden Augen und schwarzer, geschwollener Zunge an seiner Seite. In seinem Todeskampf hatte der Chronist die Bestie erwürgt.
Vor Entsetzen fast gefühllos starrte Hresh düster auf den Toten hinab. Er konnte nicht einmal weinen. Dieser Verlust war zu gewaltig. Ihm war so, beinahe, als hätte man ihm selbst die Kehle zerfetzt. Nach einiger Zeit brachte er einen leisen erstickten Laut hervor, dann so etwas wie ein Schluchzen. Er war unfähig, sich zu bewegen. Er wagte nicht einmal, Atem zu schöpfen. Er wollte, daß die Zeit sich umstülpte und nicht gewesen wäre, daß dieser ganze Tag rücklings wieder zu seinem Anfang rolle.
Dann aber kniete er schließlich neben dem Alten Mann nieder und berührte zitternd seine Stirn, als hoffte er, daß das Weistum und Wissen, das so tief hinter dieser Stirn lagerte, durch die Berührung aus Thaggorans Geist in den seinen übergehen möge, ehe Thaggoran ganz erkaltet war. Aber Thaggorans Geist war schon fort.
Es war unfaßlich. Nie zuvor hatte Hresh ein derartiges Gefühl von Verlust erfahren. Sein leiblicher Erzeugervater, Samnibolon, war stets nur ein Name für ihn gewesen – und außerdem schon lange tot. Doch dies hier… dies…
»Dawinno…«, setzte er unsicher zum Gebet an.
Und dann brach sich die aufgestaute Gefühlsflut seines Herzens Bahn. Von ganz tief in seinem Körper quoll ein schreckliches Schreien herauf, und er ließ es aufsteigen, eine gewaltige, stoßweise stockende Weheklage, ein wütendes krampfhaftes Heulen, das ihn beinahe in Stücke riß, als es aus ihm herausbrach. Dann stürzten ihm Tränen über die Wangen und verklebten seinen Pelz zu spitzen Haardornen. Es schüttelte ihn am ganzen Leib, er stöhnte, er trampelte mit den Füßen auf die Erde.
Nachdem der Gipfel seiner krampfhaften Erschütterung überstanden war, kauerte er, zitternd und schweißgebadet, auf dem Boden und bedachte den großen Verlust für das Volk und dachte an all das, was durch den Tod des Alten Mannes, dieses Weisen und Wissenden, ihm selbst aus dem Zugriff seiner Finger geglitten war.
Es war viel mehr als der Tod eines Mannes: Schließlich – sterben mußte ja jeder eines Tages, und Thaggoran hatte schon ganz schön lange gelebt. Aber sein Tod bedeutete das Sterben von Wissen. Ein unendlicher weiter Bereich der Leere in Hreshs Seele, würde nun nie mehr gefüllt werden können. Es gab so viel, was er von Thaggoran über diese fremdartige Welt zu lernen erhofft hatte, in die der Stamm ausgezogen – und gestürzt – war… und nun würde er, Hresh, sie niemals lernen können. Manches stand in den Chroniken, viele Dinge waren dort festgehalten, ja, aber manches andere war nur durch das gesprochene Wort von Mund zu Ohr weitergegeben worden, von einem Chronisten zum anderen im Verlauf der Hunderttausende von Jahren… und nun war die Kette der Weitergabe zerbrochen, von nun an würde all dieses Wissen für immer verloren sein.
Aber ich will trotzdem alles lernen, was
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