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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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ich nur kann, befahl Hresh sich.
    Ich werde an Thaggorans Stelle aus mir einen Chronisten machen. Das sagte er zu sich kühn, in diesem Augenblick, in dem er von Erschütterung und unerträglichem Kummer und Verlustgefühl fast überwältigt war.
    Er senkte die Hand und tastete kaltblütig in dem von Blut steifen Pelz dicht unter Thaggorans Hals. Da war ein Splitter grünen Glases, ein Amulett, klein, oval, sehr alt, auf dem viele Dinge in winzigen Zeichen eingekerbt waren. Thaggoran hatte ihm einmal gesagt, es sei ein ‚Stück aus der Alten Großen Welt’. Behutsam holte Hresh das Amulett hervor. In seiner Handfläche schien es kühl zu glühen. Er hielt das Ding mit heftig hämmerndem Herzen lange Zeit fest in der verkrampften Hand. Dann ließ er es in den kleinen Beutel fallen, den er an der Hüfte trug.
    Er wollte es sich nicht um den Hals hängen, dieses Zauber-Stück: noch nicht. Aber bald, eines Tages würde er es tun.
    Und so beschloß er: Ich will überallhin über die Fläche dieser Welt gehen, und ich will alles sehen, was da existiert, und alles lernen, was gelernt werden kann, denn ich bin Hresh-der-voller-Fragen-steckt! Ich will alle Geheimnisse beherrschen, die der vergangenen Zeiten und die der Zeiten, die da kommen werden, und ich werde meine Seele mit Wissen und Weisheit füllen, bis ich fast davon zerspringe, und dann werde ich meinen Wissensschatz in den Chroniken niederschreiben – zum Nutzen aller jener, die nach uns kommen werden in dieser Neuen Frühlingszeit.
    Und während er all dies dachte, spürte Hresh, wie der Schmerz über Thaggorans Tod mehr und mehr verebbte.
    Die ganze Nacht hindurch sang das Volk die Totenklagen über den zwei gefallenen Stammesmitgliedern, und beim ersten Schimmer des Morgengrauens trugen sie die Leichname eine kleine Strecke nach Osten, hinauf in die Hügelhänge und sangen die Worte Dawinnos über ihnen und sangen die Worte von Friit und Mueri für sich selber. Und dann gab Koshmar das Zeichen, und sie brachen das Lager ab und zogen hinaus auf die weiten Ebenen, die westlich lagen. Koshmar wollte ihnen nicht sagen, wohin sie zögen, sie sagte nur, daß es der Ort sei, zu dem zu gelangen ihnen bestimmt sei. Und keiner wagte es danach, weitere Fragen zu stellen.

3. Kapitel
Eine Landschaft ohne Grenzen
    Ein beißender Wind fegte schneidend über das trockene Flachland, riß den leichten Sandboden mit sich und wirbelte ihn zu dunklen Wolken auf. Hier wuchs beinahe überhaupt nichts: Es war, als hätte eine gewaltige Klinge die Oberfläche der Erde bis an die Wurzeln kahlgeschoren und alle fruchtbare Krume und alle kümmerliche Frucht davongekarrt.
    Rechts von der Marschkolonne, nicht übermäßig weit entfernt, erstreckte sich ein Strang von blaugrünen niedrigen kahlen runden Hügeln. Links breitete sich ein endlos erscheinendes flaches Land bis zum Horizont. Es lag eine Schärfe in der Luft, und ihr Geschmack war ätzend. Aber der Tag war merklich wärmer als irgendeiner vordem. Es war in der dritten Woche des Auszuges.
    In der nachmittäglichen Stille erhob sich ein seltsames Knurren, ein dumpfer Laut, wie keiner vom Volk ihn je vernommen hatte.
    Staip wandte sich an Lakkamai, der an seiner Seite ging. »Die Berge dort reden zu uns.«
    Lakkamai zuckte nur stumm die Achseln.
    »Sie sagen: Kehrt um, kehrt um, kehrt um«, sagte Staip.
    »Wie willst du das wissen?« fragte Lakkamai. »Es ist doch bloß ein Geräusch.«
    Auch Harruel hatte es gehört. Er blieb stehen, wandte sich dem Geräusch zu und beschattete die Augen gegen den Glast. Nach einer Weile beugte er sich dem Wind entgegen, schüttelte den Kopf, lachte und wies zu den Bergen hin.
    »Mäuler«, sagte er.
     Seine Augen waren außergewöhnlich scharf. Auch die anderen Krieger beschatteten die Augen wie er, doch sahen sie nur die Berge. »Was soll das heißen – Mäuler?« fragte Staip.
    »Vor den Bergen. Große sonderbare Tiere hocken dort und machen dieses Gebell. Sie haben keine Leiber, nur Mäuler«, sagte Harruel. »Seht ihr’s denn nicht?«
    Inzwischen hatte auch Koshmar es gesehen. Sie trat neben Harruel und sprach: »Schau dir das an! Meinst du, sie sind gefährlich?«
    »Ach, die sitzen bloß da«, sagte Harruel. »Und wenn sie sich nicht von der Stelle bewegen, dann können sie uns ja nichts tun, nicht wahr? Aber ich geh da mal rüber und inspiziere sie mal aus der Nähe.« Er drehte sich um. »Staip! Salaman! Ihr kommt mit mir!«
    »Darf ich auch mit?« bat Hresh.
    »Du?« Harruel gluckste.

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