Am Ende des Winters
gewaltiger, furchteinflößender Entschluß. Die Veränderungen waren dermaßen stark, daß Torlyri noch kaum zu glauben vermochte, daß sie diesen Schritt hinaus wirklich getan hatten. Seit ewig hatte der Stamm in seinem Kokon gelebt – oder doch jedenfalls beinahe seit ewigen Zeiten, was ja fast das gleiche war. Hunderte von Tausenden von Jahren – hatte der arme alte Thaggoran immer gesagt! Es war für Torlyri unmöglich, sich vorzustellen, wie lange so etwas sein mochte, viele hundert von tausend Jahren – oder auch bloß tausend Jahre. Tausend Jahre – das war doch eigentlich schon ‚immer und ewig’. Also waren wohl Hunderttausend Jahre hundertmal mehr ‚ewig und immer’.
Aber sie waren gehorsam ausgezogen – nachdem sie hundertmal für immer und ewig in ihrem Kokon gelebt hatten. Wie schlafbenommene, traumbetäubte Taumler waren sie Koshmar hinausgefolgt in eine Welt urplötzlich auftauchender Gefährdung.
Diese wilden blindwütigen, knurrend-pfeifenden Rattenwölfe – was für ein Segen, daß der Stamm vor ihnen gewarnt worden war, oder es hätte mehr als nur zwei Leben gekostet, soviel war sicher. Und dann diese Blutvögel – was war das für ein scheußlicher Kampf gewesen, bis man sie vertrieben hatte! Und dieses Flüggeziefer mit den Lederschwingen, das danach auftauchte. Und dann… nach dem… da kam…
Nein, Torlyri wußte es, es würde kein Ende geben der tödlichen Gefahren, die auf dieser weiten flachen Erdfläche auf das Volk lauerten. Und kalt war es hier, sogar jetzt noch, und trocken und zum Herzerbarmen öde, und es gab auch keine Mauern, Wände, Grenzen… Hier gab es keine Grenzen. Der Kokon hatte absolute Sicherheit geboten – und hier gab es nichts davon, überhaupt nichts an Sicherheit.
Und wenn sie nun den Kokon zu früh verlassen hätten?
Sicher, es waren Jahrhunderte seit dem letzten größeren Kataklysma vergangen, hatte jedenfalls Thaggoran behauptet. Was jedoch, wenn dies jetzt nur eine jener ruhigeren Intervallperioden war, zwischen dem Niedergang eines der Todessterne und dem Sturz des nächsten?
Vor ein, zwei Tagen hatte Minbain genau die gleichen angstvollen Befürchtungen ausgedrückt, als sie zu Torlyri kam, um in Kommunion mit Mueri zu treten. Es war das drittemal innerhalb einer Woche, daß Minbain um diese Vereinigung gebeten hatte. Die Auswanderung schien schwerer auf ihr zu lasten als auf den übrigen Frauen, den meisten jedenfalls, vielleicht weil sie älter war als die meisten anderen, obwohl es ein paar gab, die sogar noch älter waren als Minbain und dennoch recht gut durchhielten. Sie aber wirkte abgehärmt und niedergeschlagen und steckte voller Zweifel.
»Thaggoran hat uns immer gesagt«, stammelte Minbain, »daß mindestens fünftausend friedliche Jahre vorbeigehen, zwischen der Zeit der niederstürzenden Todessterne. Aber das bedeutet doch nicht, daß damit alles vorbei ist, hat er gesagt. Jedesmal nach einer Zeit ohne Todessterne soll ein neuer Todesstern auftauchen. Wie können wir also sicher sein, daß die Welt jetzt den letzten von ihnen gesehen hat?«
»Yissou-der-Beschützer hat uns herausgeführt«, sagte Torlyri beschwichtigend und haßte sich im gleichen Augenblick dafür, daß ihr die tröstliche Lüge so glatt über die Zunge glitt.
»Wenn es aber nicht der Beschützer war, der uns herausgeführt hat?« fragte Minbain. »Wenn es der Vernichter war?«
»Frieden«, flüsterte Torlyri. »Komm ganz dicht zu mir, Minbain. Laß mich deiner Seele Erleichterung spenden.«
Doch ihre eigene Seele fand wenig Ruhe. Zwar mühte sie sich, es nicht merken zu lassen, doch in ihr herrschte fast ebenso große Furcht wie in Minbain. Es gab einfach keine Garantie dafür, daß dies wirklich die richtige Zeit des Auszugs und Aufbruchs sei. Torlyri glaubte daran, daß die Götter es gut mit ihnen meinten; doch gab es auch keine Möglichkeit, das Walten und Wirken der Götter weislich zu wissen, die in ihrer Weisheit, so groß sie auch sein mochte, das Volk leicht in furchtbares Verderben führen mochten. Denn wie sollte denn irgend jemand wissen, was werden würde und kommen? Morgen oder über den Morgen oder am übernächsten Tag mochte man vielleicht schon das schreckliche Feuer aus dem Schweif eines Todessterns über die Himmel hereinfahren sehen, und dann würde die ganze Welt unter der gewaltigen Wucht des Zusammenpralls erbeben, und der Himmel würde schwarz sein, und die Sonne verborgen, und alle Wärme würde weichen von der Welt, und verderben
Weitere Kostenlose Bücher