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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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sie in Zweifel und Verzweiflung verstrickt, als wäre bei ihrer Vereinigung mit Koshmar deren Seelenpein auf sie übergegangen.
    »Bist jetzt du in deinem Herzen betrübt?« fragte Koshmar nach einer Weile und zog die Hand zurück.
    »Vielleicht.«
    »Das lasse ich nicht geschehen. Sollst du mir das Herz leichter machen, nur um deines zu beladen?«
    »Wenn ich dir deine Befürchtungen nehmen konnte, freut mich das sehr«, sagte Torlyri. »Aber ich fürchte, jetzt lastet deine Furcht und Sorge schwer auf mir.« Sie schaufelte mit beiden Händen die sandige Erde auf und verstreute sie gereizt wieder. Schließlich sagte sie: »Koshmar, was wird, falls wir wirklich die einzigen Menschlichen sind?«
    »Na und? Wenn wir es wären?« sagte Koshmar großspurig. »Dann werden wir unser Erbe antreten und die Erde beherrschen, wir sechzig! Wir werden uns unser Königreich bauen auf dieser Erde. Wir werden sie mit Leuten unseresgleichen neu besiedeln. Wir müssen nur sehr achtsam und vorsichtig sein, mehr nicht, denn wir sind etwas Seltenes und Kostbares, wenn wir die einzigen überlebenden Menschen sind, die es noch gibt.«
    Der plötzliche Überschwang Koshmars wirkte unwiderstehlich auf Torlyri. Beinahe sogleich spürte sie, wie die düstere Bedrückung sich von ihr zu heben begann.
    »Dennoch bleibt sich das gleich«, fuhr Koshmar fort. »Ob wir nun die einzigen überlebenden Menschlichen sind oder nur ein Häufchen unter Millionen. Wir müssen uns dennoch stets höchst vorsichtig verhalten auf unserem Zug und tunlichst allen Gefährdungen ausweichen, die diese Welt für uns bereithält. Denn vor allem anderen haben wir die Pflicht, einander zu beschützen und zu erhalten und…«
    »Oh! Schau doch, schau, Koshmar!« rief Torlyri plötzlich.
    Sie deutete auf die Insektenburg. Das seilartige Geschöpf hatte sich mit einem Ende völlig vom Erdboden losgerissen. Es war unmäßig lang, dreifach oder gar vierfach mannslang. Hochgekrümmt und niederstoßend schlug das Ding wieder und wieder gegen die kunstvollen Mauern und Türmchen des Bauwerks. Das ausdruckslose, augenlose Vorderende öffnete sich zu einem klaffenden Schlund. Und sobald das Geschöpf eine Bresche in die Burg gebrochen hatte, begann es die kleinen roten Insekten und ihre zerschmetterten Wehrwälle mit gierigen Schlucken zu verschlingen, so daß bald keine Spur mehr von den Erbauern und ihrem Werk mehr übrigbleiben würde.
    Koshmar schauderte. »Ja, Gefahren überall. Ich sagte dir ja, daß ich das da töten wollte.«
    »Aber es hat dir doch nichts getan.«
    »Und den Insekten, deren Burg es zerstört hat?«
    Torlyri lächelte. »Koshmar, denen bist du keinen Gefallen schuldig. Alle Geschöpfe müssen essen, sogar ekelhafte Wurmstricke. Komm weg, lassen wir es sein Frühstück in Ruhe beenden!«
    »Es gibt Augenblicke, da vermute ich, daß du weit weniger sanftmütig und mild bist, als es den Anschein hat, Torlyri.«
    »Alle Wesen müssen essen«, sagte Torlyri.
    Koshmar überließ Torlyri ihren Pflichten, der Beendigung der Morgenrituale, die sie unterbrochen hatte, und kehrte zu der Stelle zurück, wo der Stamm lagerte. Inzwischen war es weit über die Stunde des Sonnenaufgangs hinaus, und sämtliche Stammesmitglieder waren auf den Beinen.
    Koshmar hielt auf einem Hügelchen an und spähte gen Westen. Die Wärme der Morgensonne war angenehm auf dem Rücken und den Schultern.
    Das vor ihr liegende Land flachte zu einer weiten nicht sehr tiefen Senke ab, ohne Bäume und nahezu ohne irgendwelche Merkmale. Es war hier sehr trocken, Sandboden, keine Seen, keine Flüsse, nur äußerst schmale Rinnsale. Ab und zu sah man die Buckel niederer Hügel, die aussahen, als wären sie von etwas gewaltig Starkem zerquetscht und dann glattpoliert worden, was höchstwahrscheinlich der Fall gewesen war. Koshmar versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen sein mochte: tiefe Lagen von Eis überall auf dem Land, Eis, das so schwer war, daß es wie ein Strom dahinfloß. Eis, das in Berge schnitt und sie zu Geröll zermahlte, sie dann in den Hunderten Tausenden von Jahren des Langen Winters davonfegte. Dies, so hatte Thaggoran gesagt, war geschehen in der Welt, während der Stamm sicher eingenistet im Kokon überwinterte.
    Koshmar wünschte, Thaggoran könnte jetzt bei ihr sein. Es hätte keinen schmerzlicheren Verlust geben können als durch seinen Tod. Erst als er dahin war, hatte sie sich bewußt gemacht, in wie hohem Maß sie sich auf ihn gestützt und verlassen hatte. Er war das

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