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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Türmen, die von erstickenden Schlingpflanzen überwuchert waren.
    »Das bringt uns nicht weiter«, sagte der Häuptling zu Hresh.
    »Aber wie interessant diese Tiere sind, Koshmar!«
    »Interessant! Wir sterben hier vielleicht hundertmal in dieser Wildnis, und du würdest das bestimmt ebenfalls interessant finden, wie?«
    Dessenungeachtet trug sie Hresh auf, allen diesen Geschöpfen Namen zu geben, ehe sie wieder in Freiheit gesetzt wurden, und er mußte diese Namen in sein Buch niederschreiben. Koshmar war überzeugt, daß die Benennung mit Namen für die Dinge der Welt wichtig sei. Denn, so meinte sie, dies mußten samt und sonders ganz neue Geschöpfe sein, Tiere, die erst nach dem Untergang der Großen Welt zu leben begannen, weswegen ja wohl auch in den Chroniken nichts über sie zu lesen stehe. Und indem man ihnen Namen gebe, gewinne man mehr und mehr Macht über sie, dachte sie. Noch immer klammerte sie sich nämlich an die Hoffnung, daß sie – und durch sie, ihr Volk – Beherrscher dieser Welt des Neuen Frühlings werden könnten. Und darum die Benennung mit Namen. Doch auch als Hresh die Namen sagte, empfand sie jedesmal nach langem Nachdenken die Sinnlosigkeit eines solchen Tuns. Sie wanderten als Verirrte in diesem Land umher. Und es gab kein Ziel für sie und keinen, der sie leitete und lenkte.
    Koshmars Herz wurde von tiefster Niedergedrücktheit erfüllt.
    Und dann, als das Volk am Rande eines gewaltigen schwarzen Sees im Kern eines feuchten Sumpflandes entlangzog, wallten die schwarzen Wasser auf und kochten heftig, und aus den Tiefen begann langsam ein absonderlicher Koloß sich zu erheben: ein Ding von enormer Höhe, aber so zerbrechlich zusammengefügt, daß es der nächste Windstoß zerschmettern mußte – bleiche Gliedmaßen, die nicht mehr waren als dünne Streben, ein Leib, der nur aus einer unendlich langgestreckten häutchenbedeckten Röhre zu bestehen schien.
     Als das Ding sich immer höher und höher hinaufreckte, bis es fast das ganze Firmament vor ihnen verdeckte, warf Koshmar die Arme über ihr Gesicht vor Bestürzung, und Harruel stieß ein röhrendes Brüllen aus und schwang seinen Speer, und einige der furchtsameren Stammesmitglieder ergriffen die Flucht.
    Aber Hresh hielt stand und rief laut: »Dies muß einer vom Volk der Wasserwanderer sein. Es ist ungefährlich, glaube ich.«
    Höher und höher türmte sich das Ding und stieß aus dem See empor bis zu einer Höhe, die zehn- oder fünfzehnmal größer war als der längste Mann. Dort hielt das Geschöpf inne, schwebte über ihnen, hielt sich mit weitgespreizten Beinen im Gleichgewicht auf der oberen Seite des Wassers, auf dem es kaum eine Störung zu bewirken schien. Aus einer reihenartig angeordneten Zahl starrer strahlender grüngoldener Augen spähte es zum Volk herunter und nahm es irgendwie betrübt und mißmutig in Augenschein.
    »Du da! Du Wasserläufer!« brüllte Hresh hinauf. »Sag uns, wie wir die Stadt der Saphiräugigen finden können!«
    Und erstaunlicherweise gab das gewaltige Geschöpf sogleich in der wortlosen Rede der Gedanken Antwort und sprach: »Ach, das ist nicht weit, nur zwei Seen und einen Fluß weiter drüben, Richtung Sonnenuntergang. Aber das weiß doch schließlich jeder! Bloß, was habt ihr davon, wenn ihr dort hingeht?« Der Wasserschreiter lachte, scheußlich scheppernd, schrill und hysterisch und begann sich Stück um Stück zusammenzufalten und wieder in den See zu tauchen. »Was habt ihr? Was? Habt? Ihr? Davon? Heh?« Und dann noch einmal das Gelächter, und dann verschwand das Ding im schwarzen Wasser.
     

5. Kapitel
Vengiboneeza
    Am Nachmittag des Tages des Wasserschreiters kam Threyne mit in die Flanken gepreßten Händen zu Torlyri und verkündete, daß ihre Zeit gekommen sei. Und Torlyri konnte erkennen, daß dem so war: Das Ungeborene stieß eifrig gegen den hochgewölbten Bauch der jungen Frau, und es gab auch andere Anzeichen dafür, daß die Geburt unmittelbar bevorstehe.
    »Wir können nicht so rasch weiterziehen«, beschied Torlyri Koshmar. »Threynes Zeit ist gekommen.«
    Ganz kurz blitzte Verdruß in Koshmars Augen auf. Torlyri wußte, daß Koshmar danach fieberte, eilends nach Vengiboneeza zu gelangen, nun, wo sie erfahren hatte, daß die große Stadt so nahe lag. Doch sie würde warten müssen. Die Geburt eines Kindes besaß Vorrang vor allem anderen. Man mußte Threyne versorgen; das Kind mußte heil geboren werden.
    In den Tagen im Kokon war die Geburt jedes neuen Kindes

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