Am Ende des Winters
nicht nur von Freude, sondern auch von einem versteckten dunkleren Gefühl begleitet gewesen, denn man gestattete nur dann einem neuen Leben den Eintritt in die Welt, wenn ein anderes sich dem Zeitpunkt näherte, an dem es sie zwangsläufig verlassen mußte. Innerhalb des Kokons war kein Platz für Zuwachs und Erhöhung der Zahl, und so war Geburt unlösbar mit dem Tod verschlungen. Deswegen hatte man das Grenzalter oder die Altersgrenze eingeführt, auf daß das Volk wählen müsse zwischen einer Existenz in unerträglicher bedrückender Enge und dem praktischen Verbot neuer Geburten. Aber hier draußen, wo so vieles für den Stamm völlig neu war, brauchte man eine Übervölkerung nicht zu fürchten. Ganz im Gegenteil: Das Volk hatte jedes Neugeborene dringend nötig, das man produzieren konnte. Aber das war nicht alles: Keiner würde mehr sterben müssen, um Platz zu schaffen für die Nachkommenschaft. Alle mit der Befähigung zum Kindertragen, dachte Torlyri, sind es dem Stamm schuldig, ein Ungeborenes auszutragen. Und sie begann auch für sich selbst mit dieser Vorstellung zu spielen.
Sie zogen so weit wie möglich von dem Sumpf und dem schwarzen See weg. Niemand wollte, daß der Wasserschreiter wieder auftauche und die Luft mit seinem entsetzlichen Lachen erfülle, während Threyne ihr Kind gebar.
Ein paar Männer schnitten Schößlinge, um ihr eine Laubhütte zu errichten. Minbain und Galihine und ein paar weitere ältere Frauen wuschen sie und hielten ihr die Hände, als ihre Wehen heftig wurden. Preyne, der Kindesvater, kauerte eine Weile an ihrer Seite und berührte mit dem Sensororgan das ihre, um ihr einen Teil der Beschwernis abzunehmen, wie es seine Pflicht und sein Privileg war. Torlyri bereitete das Geburtsopfer vor für Mueri in ihrer Verkörperung als Trösterin und für Yissou, den Beschützer, und auch für Friit, den Heiler, für nach der Geburt. Die Wehen dauerten lang, und Threyne stöhnte stärker, als die meisten Frauen sonst es taten. Die Mühen des Trecks machen es ihr so schmerzlich, dachte Torlyri.
Koshmar, die den ganzen Nachmittag über gereizt umhergestapft war, kam zu der Hütte, als die Sonne untergehen wollte, und blickte starr auf Threynes pralle Leibesmitte herab. Zu Torlyri sagte sie nur: »Also? Läuft alles, wie es sein soll?«
Torlyri winkte Koshmar beiseite, wo Threyne sie nicht hören konnte, und sprach: »Es dauert zu lange. Und sie hat große Schmerzen.«
»So soll doch Preyne ihr die Schmerzen nehmen.«
»Er gibt sich alle Mühe.«
»Wird sie sterben?«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Torlyri. »Aber sie leidet sehr. Und wenn sie es überlebt, wird sie über Tage hin noch sehr schwach sein.«
»Was sagst du da, Torlyri?«
»Wir werden eine Weile nicht weiterziehen können.«
»Aber Vengiboneeza…«
»… hat siebenmal hunderttausend Jahre auf uns gewartet«, unterbrach Torlyri. »Es kann gut noch ein paar Wochen länger warten. Wir dürfen nicht wegen deiner Ungeduld Threynes Leben aufs Spiel setzen. Und Nettins Kind ist ebenfalls bald fällig, in zwei, drei Tagen. Also bleiben wir am besten hier, bis die zwei wieder kräftig genug sind weiterzuziehen. Sonst aber teile den Stamm und sende Harruel und ein paar der Männer voraus und laß sie ausspähen nach der Stadt, und wir rasten hier und versorgen die Kindsmütter.«
Koshmar blickte verärgert drein. »Wenn Threyne etwas geschähe, ich würde es mir niemals verzeihen. Aber kannst du nicht begreifen, wie mir zumute ist, wo die Stadt so nahe vor uns liegt?«
Sanft legte Torlyri Koshmar die Hände auf die Schultern und drückte sie kurz an sich. Leise sagte sie: »Ich weiß. Du hast so schwer gekämpft, um uns bis hierher zu führen.«
Aus Threynes Hütte drang in diesem Augenblick ein neuer Laut, ein schriller, schärferer.
»Es ist soweit«, sagte Torlyri. »Ich muß zu ihr. Wir ziehen bald wieder weiter. Ich verspreche es dir.«
Koshmar nickte und stapfte davon. Kopfschüttelnd blickte Torlyri ihr nach. Es erstaunte sie, daß sie der sonst so klar und abwägend denkenden Koshmar hatte sagen müssen, daß man hier für eine Weile würde haltmachen müssen, und daß Koshmar vielleicht sogar jetzt noch Mühe hatte, die Notwendigkeit zu akzeptieren. Andererseits fehlte es Koshmar aber auch an jeglicher Einsicht und Fähigkeit für solche Frauensachen. Nie hatte sie einem Mann erlaubt, ihre Schenkel mit Händen zu berühren; sie hatte niemals auch nur kurz daran gedacht, ein Kind zu tragen; sie hatte
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