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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Später war noch Zeit genug für solche riskanten Unternehmungen; vorläufig galt es vor allem, Geduld zu wahren in diesen ersten Tagen voller Rätsel. Siebenhundertmal tausend Jahre lang hatten sie die Geduld aufgebracht, in einem einzigen Kokon in einem Berghang zu überleben. Koshmar selbst war keine außergewöhnlich geduldige Frau, doch sie bemühte sich unablässig, die Kunst zu meistern, die jeder weise Häuptling erlernen muß: das Wartenkönnen.
    Sie suchte ein Viertel in der Nähe des Südtores aus, das nicht allzu stark zerstört war. Hier erhob sich ein prachtvoller sechseckiger Turm aus glattem blauroten Stein mit zahlreichen Fenstern über einem ausgedehnten Bezirk jener kleinen Gebäude mit den grünen Kuppeln. Diese wies sie mit – wie sie meinte – beträchtlichem Führungsgeschick den Stammesmitgliedern zu. Jedem der Zuchtpaare wurde ein eigenes Haus zugeteilt. Die Krieger bekamen ein Gemeinschaftsquartier, auf daß sie sich beständig auf die Füße treten mußten, wobei sie zum Teil diese ruhelose Energie loswerden konnten, die sonst vielleicht zu Ärger führen mochte. Den älteren Stammesangehörigen erlaubte man, in Dreier- und Vierergruppen zusammenzuhausen, damit sie sich gegenseitig um den anderen kümmern könnten, und sämtliche Kinder brachte man in einem Haus, direkt angrenzend an das der unverheirateten Arbeiterinnen, unter. Für sich selbst und Torlyri bestimmte Koshmar das dem großen Turm nächstgelegene Haus. Der Turm sollte der Stammestempel werden, und später, wenn sie erst einmal die Stadt durchstreiften, konnte er ihnen als Wahrzeichen dienen, um sie wieder sicher in ihren Heimatbezirk zurückzuführen, denn es hatte den Anschein, daß es keine Gegend in Vengiboneeza gab, von der aus man ihn nicht hätte sehen können.
    Es war die glücklichste Zeit, die Koshmar je erlebt hatte. An jedem Tag mußte sie irgendeine Schwierigkeit lösen, irgendwelche Verordnungen erlassen, irgendwelche Entscheidungen treffen.
    Im Kokon war sie oft von Unruhe und Unsicherheit erfüllt gewesen. Ihr starker Drang nach Führerschaft war überwiegend unerfüllt geblieben. Von ihrer Kindheit an war sie für das Häuptlingsamt geformt worden, und sie benutzte ihre Fähigkeiten mit Scharfsinn und Stärke. Aber sie war ein Anführer, der seine Führerschaft nicht einsetzen konnte, denn im Kokon war alles viel zu glatt verlaufen. Gewiß, sie erfüllte die ihr zustehende Rolle bei sämtlichen Ritualen, sie hielt Gericht und sprach Urteile, wenn Zwistigkeiten oder Zank ausbrachen, sie fungierte als Rat und Stütze für die Schwachen und als Besänftiger der Starken und Starrköpfigen. Darin bestand ihr Leben und ihre Aufgabe als Stammesführerin im Kokon.
    Doch sie hatte ihre Tage verstreichen sehen, ohne einen wirklichen Zweck, ohne Ziel, und sie hatte das Ende ihrer Tage auf sich zukommen sehen, ohne daß ihre innere Ruhelosigkeit Linderung gefunden hätte. Obschon sie mit dreißig noch so lebensvoll war wie ein junges Mädchen, wußte sie doch, daß es auch für sie keinen Weg gab, dem heransausenden Grenzalter zu entrinnen. Das Gesetz galt absolut. Nur der Chronist durfte zuweilen über sein fünfunddreißigstes Jahr hinausleben. Für Häuptlinge jedoch gab es da keine Ausnahmen. Koshmar hatte sich oft darüber Gedanken gemacht, wie das in ein paar Jahren sein würde, wenn man sie aus der Ausstiegsluke stoßen mußte, gleichgültig wie lebensstark sie noch sein mochte, auf daß sie draußen in der Welt ihren Tod finde.
    All das war nun anders. Jetzt war es von vordringlicher Bedeutung, daß sie allesamt so lange wie nur möglich lebten, daß jene, die dazu in der Lage waren, Kinder zu tragen, sich eifrig dieser Aufgabe widmeten.
    Manche vom Stamm verstanden das nicht, jedenfalls anfangs. Anijang, der der älteste von allen war, kam nicht lange nach dem Einzug in Vengiboneeza zu Koshmar und sagte: »Dieser Tag ist mein Todestag. Was soll ich tun? Allein in den Dschungel wandern?«
    »Anijang, es gibt keine festgesetzten Todestage mehr!« hatte Koshmar gesagt und dabei gelacht.
    »Keine Todestage? Aber ich bin fünfunddreißig. Ich habe ganz sorgfältig mitgezählt.« Er holte eine brüchige alte Lederschnur hervor, die mit Knoten übersät war. »Da, hier ist der Tag.«
    »Ja, bist du denn nicht noch stark und gesund?«
    »Nun…« Er zuckte die Achseln. Seine Schultern waren krumm, und die Haare um die Schnauze begannen grau zu werden, aber für Koshmars Blick sah er noch recht gesund und munter

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