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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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aus.
    »Es besteht kein Anlaß, daß du sterben solltest, ehe die natürliche Zeit für dich gekommen ist«, sagte sie. »Wir leben jetzt nicht mehr im Kokon. Jetzt gibt es Platz für alle, und zwar solange sie leben können. Außerdem wirst du hier noch gebraucht. Es gibt hier viel zu tun für uns alle, und in Zukunft wird es noch mehr Arbeit geben. Wie könnten wir auf dich verzichten, Anijang?«
    Der verwirrte, verlorene Ausdruck in den Augen des Alten verblüffte sie. Dann aber begriff sie, daß er schon vor langer Zeit seinen Frieden mit dem Tod gemacht hatte und nun nicht fähig war, die Gnadenfrist, den Aufschub willkommen zu heißen, ja nicht einmal ihn zu begreifen. Ihm, diesem durchschnittlichen, schlichten, denkträgen schwer schuftenden Mann, genügten die fünfunddreißig Jahre Leben. Er sah keinen Grund zum Weiterleben. Tod, das war für ihn nur ein unendlicher, friedlicher, angenehmer Schlaf.
    »Ich soll also nicht gehen?« fragte Anijang.
    »Du darfst nicht gehen. Dawinno verbietet es.«
    »Dawinno? Aber er ist doch der Vernichter.«
    »Er ist der Ausgleicher«, sagte Koshmar. »Er gibt und er nimmt. Er hat dir dein Leben geschenkt, Anijang, und du sollst es noch viele künftige Jahre hindurch behalten.« Sie ergriff ihn fest an den Armen und zog ihn an sich. »Freue dich, Mann, und juble! Du sollst lange leben! Geh und suche deinen Tvinnr-Gefährten und feiert diesen Tag!«
    Mit schlurfenden Schritten ging Anijang davon. Er schien nichts zu begreifen; aber er würde sich fügen.
    Manche andere, auch das wußte Koshmar, würden ähnlich verwirrt werden. Man würde das Problem mittels eines Häuptlingserlasses regeln müssen. Lange besprach sie sich mit Torlyri über das, was dabei zu erklären sein würde. Es fiel ihnen dermaßen schwer, die Formulierungen auszuarbeiten, daß sie schließlich ein Tvinnr vornahmen, wobei sie das nötige Tiefenverständnis fanden. Hierauf rief Koshmar den Stamm zusammen und verkündigte die Neue Ordnung.
    Das Volk tue nicht recht, wenn es glaubte, daß die Götter jemals den frühen Tod von ihnen gefordert hätten. Sie gemahnte an die Lehren, mit denen sie erzogen seien. Die Götter hätten nur verlangt, daß das Volk auf ordentliche Weise im Kokon lebe, bis die Zeit des Auszugs gekommen war. Und da die Götter das Leben liebten, war es wichtig gewesen, daß ab und zu junges Leben in den Kokon Einzug halte; da aber der Stamm nicht leicht den Kokon erweitern konnte und weil die Nahrungsmittel knapp waren, hatten die Götter die Weisung erteilt, die Bevölkerung im Gleichgewicht zu halten. Fünfunddreißig Jahre und nicht mehr hatten sie leben dürfen, dann mußten sie den Kokon verlassen und sich ihrem Schicksal ausliefern, damit neues Leben Einzug halten könne. Für jedes Neugeborene ein Tod. Und keiner, verkündete Koshmar, bezweifelte jemals die Notwendigkeit und Weisheit dieser Anordnung.
    Aber die erbarmungsvollen Götter brachten sie nun gnädig aus dem Kokon heraus in die Welt, und die alten Einrichtungen waren nicht mehr angemessen. Die Welt war riesenhaft groß – der Stamm war klein; Nahrung war leicht zu finden. Und deshalb war es nun das Verlangen der Götter, daß das Volk fruchtbar sei und sich mehre. Der Tod würde für jeden kommen, wenn es dem Willen der Götter so gefalle, aber nur dann. Dieses Jetzt, sagte Koshmar, sei die Zeit des Lebens, die Zeit der Freude, die Zeit des Wachsens für den Stamm.
    »Und wie lange werden wir dann leben von nun an?« fragte Minbain. »Werden wir ewig leben?«
    »Nein«, erwiderte Koshmar. »Nicht ewig. Nur für die natürliche Zeitspanne, wie lang sie eben sein mag.«
    »Schön«, sagte Galihine, »aber wie lang ist das?«
    »So lange, wie vordem die Chronisten gelebt haben«, erklärte Koshmar. »Denn sie allein erfüllten ihre natürliche Lebenszeit.«
    Immer noch blieben die Gesichter ausdruckslos.
    »Ja, und wie lang ist denn das?« wiederholte Galihine.
    Koshmar warf Hresh einen Blick zu. »Sag mir, Knabe, wie lautete der Name des Chronisten, der die Lade vor Thaggoran hütete?«
    »Thrask«, sagte Hresh.
    »Thrask, ach ja. Ich hatte das vergessen, weil ich bei seinem Tod noch sehr jung war. Kaum einer unter euch war in Thrasks Tagen schon geboren, aber ich sage euch dieses, er lebte, bis er alt war und gebückt und bis sein Pelz ganz und gar weiß war. Und dies ist die natürliche Zeit.«
    »Alt und gebückt sein«, sagte Konya und schauderte ein wenig. »Ich bin nicht so ganz sicher, ob ich das

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