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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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trugen Feuchtigkeit von dem Wasser heran. Die Regen fielen häufig, und das Land grünte üppig. Es war Winter, die Zeit der kurzen Tage, die zugleich auch die Regenzeit zu sein schien, und sie war wirklich außerordentlich naß. Aber tagsüber war die Luft mild, und Frost gab es nur in ganz wenigen Nächten, und auch dann nur in der Stunde kurz vor der Dämmerung. Als die Tage länger wurden, trat eine sichtliche Wachstumssteigerung ein, und die Witterung wurde sogar noch wärmer. Alles war nun sehr anders als während jener ersten erbärmlichen Monate nach dem Auszug aus dem Kokon, als sie die trostlosen kahlen Weiten im Herzen des Kontinents durchqueren mußten. Es war eindeutig: Die Zeit des Langen Winters war vorbei. Keiner zweifelte nun mehr daran.
    Vengiboneeza war überall ringsum, weitgestreckt, gewaltig, unbegreiflich, eine in sich geschlossene, in ehrfurchtgebietendem Schweigen ruhende Welt. Vom Gestade des Meeres bis an den Rand des Dschungels und zu den waldbedeckten Vorbergen des Felsmassivs breitete sich die tote Stadt in alle Himmelsrichtungen aus, ohne erkennbare Planung, ohne erkennbare Geordnetheit. In einigen Teilen liefen die Straßen als breite offene Boulevards mit grandiosem Ausblick auf die Berge oder die See dahinter; in anderen Stadtbezirken waren die Straßen ein Geflecht winzigkleiner Alleen, die sich in verzweifelter Intimität ineinander wanden oder von hohen Mauern abgesperrt waren, die den direkten Zugang zu darunterliegenden Plätzen abriegelten. Vielerorts ragten hohe Türme auf, meist dichtgedrängt in Reihen zu zehnt oder zwanzig, manchmal aber – und dies waren dann die höchsten gewaltigsten Türme – standen sie in erhabener Vereinzelung über einer Umgebung von niederen Flachbauten mit grünen Kachelkuppeln.
    Besonders direkt an der Küste lagen weite Stadtbezirke in Trümmern; doch vieles hatte auch standgehalten.
    Der Lange Winter hatte hier weniger Narben hinterlassen als in den ungeschützten Ebenen im Osten, jedoch gab es auch hier der Narben genug. Während der Winterzeiten war die See mehr als einmal hochgegangen und hatte die näheren, tieferliegenden Bezirke überschwemmt. Man konnte an hohen Wänden uralte graue Wassermarken sehen, und auf Balkonen in Höhe der zweiten Stockwerke lagen Strudelteppiche von Sand und Geröll. Auf den Flachdächern häuften sich die verstreuten, zerschmetterten Knochen von Seegeschöpfen wie Schneedriften. Auch wurde deutlich, daß einst träge kriechende Eisflüsse von den Bergflanken herabgeflossen sein mußten und die Bauten in den höhergelegenen Bezirken ineinandergeschoben und zermalmt hatten. Auch sah es so aus, als wäre die Erde selbst aus ihren Tiefen heraufgebrochen und habe in vielen Teilen der Stadt die Straßendecke senkrecht aufgestülpt, Bauten gefährlich schiefgekippt oder zerquetscht, so daß sie in zerschmetterten Trümmerstücken und Scherben regenbogenfarbigen Metalls umherlagen.
    »Wunderbar dabei ist aber«, sagte Torlyri, »daß überhaupt etwas übrig ist, nach diesen ganzen siebenmal hunderttausend Jahren.«
    »Es hat sich bestimmt jemand darum gekümmert«, sagte Koshmar. »Das kann gar nicht anders sein.«
    Und dies schien wirklich der Fall zu sein. Vielerorts sah man Anzeichen von Reparaturarbeiten, ja sogar von Wiederaufbau in größerem Umfang, als rechneten die Hüter der Stadt jederzeit mit der Rückkehr der Saphiräugigen und mühten sich, die Stadt einigermaßen empfangsbereit für sie zu machen. Aber wer waren diese Hüter? Nirgendwo sah man Anzeichen von Mechanischen oder Künstlichen irgendwelcher Art: der Ort schien vollkommen verlassen zu sein, bis auf die drei gewaltigen Wächter vor dem Tor, und die verließen ihren Posten niemals.
    »Suche in den Chroniken!« befahl Koshmar dem Hresh. »Und sage mir dann, auf welche Weise diese Stadt gewartet und erhalten wurde.«
    Und er suchte höchst eifrig. Zwar entdeckte er eine ganze Menge über die Gründung und die Hochblüte von Vengiboneeza, aber nicht den geringsten Hinweis auf ihr Fortbestehen. Alles in allem hätten es auch die Gespenster der Saphiräugigen selbst sein können, die durch die Straßen huschten, um das Nötige zu tun.
    Anfänglich wagte sich der Stamm noch nicht in die entfernteren Bezirke der Stadt vor. Koshmar führte sie nur gerade so tief in die Stadt, daß sie sich vor den Geschöpfen des Dschungels sicher fühlen konnten, nicht jedoch so weit, daß sie sich in dem Labyrinth zerstörter Straßen hätten verirren können.

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