Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
töten. Ja, allein die Vorstellung von so etwas überstieg bereits sein Begriffsvermögen. Dennoch würde er es nicht sehr viel länger ertragen können, sich Koshmars Herrschaft zu beugen.
    In letzter Zeit hatte er sich angewöhnt, häufig allein und in weiten Streifzügen durch die Stadt zu streifen, in dem Bestreben, sie genauer kennenzulernen. Diese Stadt – sie war für ihn der ‚Feind’. Und er hatte stets dem Prinzip gehuldigt, daß es von Wichtigkeit sei, seinen Feind zu erkennen und zu kennen. Heute allerdings war er zum erstenmal in der Nacht losgezogen.
    Alles sah verändert aus. Die Türme wirkten höher, die niedrigeren Bauten erschienen ihm flacher. Straßen krümmten sich in unvertrauten Richtungen und Winkeln. In jedem Schatten lauerte etwas Bedrohliches. Aber Harruel wanderte fürbaß und immer weiter. Schließlich trug er seinen Speer. Und er war furchtlos.
    Einige Straßen waren mit makellosen Steinplatten bedeckt, als hätten die saphiräugigen Bewohner sie erst vorgestern verlassen. Andere Straßen waren aufgebrochen und zerspellt, und grobe Gräser erhoben sich zwischen den Pflasterplatten. Und wieder andere waren gänzlich ohne Decke und waren nur mehr von Erdschlamm bedeckte Schneisen zwischen Reihen von zerbröckelnden Häusern. Er begriff diese Stadt nicht. Er verabscheute sie. Ihm wurde übel bei der Vorstellung, daß sein leiblicher Sohn hier geboren werden sollte, hier, an diesem scheußlichen fremden Ort, an dem so ganz und gar nichts Menschliches war.
    Es gab Gespenster hier. Und während er so dahinstreifte, hielt er nach ihnen Ausschau.
    Er war sicher, daß überall Spuk und Geister lauerten. Sie mußten die Leute sein, die die Reparaturen ausführten. Aber sie taten es nachts, wenn keiner sie dabei sehen konnte. Wie es schien, wurden willkürlich eingestürzte Gebäude abgesichert, erhielten neue Fassaden, wurden von Trümmern befreit. Er sah die Veränderungen hinterher. Auch einige der anderen hatten dies bemerkt – Konya, Staip, Hresh. Wer aber ordnete das alles an?
    Er spähte auch scharf nach kriechenden, schleichenden, stechenden Nachtgeschöpfen aus. Die meisten Plagen, mit denen Vengiboneeza geschlagen war, verschwanden mit Einbruch der Dunkelheit, mit Ausnahme jener, die in den Bauten selbst hausten. Aber das hieß noch nicht, daß er sich vor ihnen völlig in Sicherheit fühlen durfte.
    Früh an einem Abend vor gar nicht langer Zeit, als Harruel wieder einmal ruhelos umherwanderte wie heute, gelangte er an den Rand des warmen Meeres, das gegen die Westflanke der Stadt brandete, und hatte dort beobachtet, wie ein Heer von häßlichen grauen Eidechsenwesen aus dem Wasser gekrochen kam. Es waren bösartige kleine Geschöpfe mit schlanken röhrenförmigen Leibern, etwa so lang wie sein Unterarm, mit feisten fleischigen Beinen und knautschigen, grünen, hinter dem Hals gefalteten Flügeln, und in ihren hellen gelben Augen stand ein unheilschwangeres Glitzern. Sie gaben einen grollend-brummenden Ton von sich, drohend und ekelhaft, als stießen sie drohend seinen Namen aus: »Harruel! Harruel! Harruel! Heut werden wir dich zum Nachtmahl fressen!«
    Wie eine dichtgedrängte Insektenschar rückten sie mit schnappgierigen Kiefern näher, bis sie nur mehr dreißig Schritt von ihm entfernt waren und er Umschau hielt, ob er nicht etwas fände, womit er sich verteidigen könnte. Zurückweichend hob er eine Handvoll Kiesel auf und noch eine und beschoß die Anrückenden damit, ohne sie jedoch zum Innehalten bewegen zu können. Als sie jedoch bis zu einer Reihe rechteckig geschnittener Grünsteinquader gelangten, die direkt unter seinem Standpunkt in die Ufermauer eingelassen waren und auf denen winzige rätselhafte Gesichter eingemeißelt waren, hielten sie plötzlich an, als wären sie wider einen unsichtbaren Wall gestoßen. Darauf machten sie trübselig-träge und bestürzt kehrt und strebten wieder dem Wasser zu. Vielleicht war ihnen die Witterung von einer noch ekelhafteren Tiergattung zugeweht, deren Schwarm sich jenseits dieser Trümmersäulen befand, dachte er. Oder – vielleicht mögen sie einfach nicht, wie ich rieche. Wie dem immer war, er begriff, daß er Glück gehabt habe, so leicht davonzukommen.
    Bei anderer Gelegenheit sah er Wolken von Geflügelten in einem derart dichten Schwarm droben dahinziehen, daß sie in der Mitte des Tages das Firmament verdunkelten. Er hielt sie für diese wilden weißäugigen Wesen, die sie als Blutvögel bezeichneten und die seinerzeit

Weitere Kostenlose Bücher