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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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ein Ort voller Gefahren. Zum einen konnten ihn die Lehrer womöglich für dumm statt schüchtern halten. Er hatte keine Freunde - und das in Kombination mit seiner äußeren Erscheinung konnte ihn leicht zum Opfer werden lassen. Ness' Anwesenheit hätte die Dinge einfacher gemacht, davon war Joel überzeugt. Sie hätte sich leichter eingefügt als er. Er hätte in ihrem Kielwasser fahren können.
    Allerdings hätte Ness - so wie sie heute war, nicht die Ness seiner Kindheit - dies niemals zugelassen. Aber Joel sah seine Schwester immer noch in einer Art und Weise, die ihre Abwesenheit umso schmerzlicher für ihn machte. Also versuchte er, sich unsichtbar zu machen und weder die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler noch die der Lehrer zu wecken. Auf die herzlichen Nachfragen seines Vertrauenslehrers: »Na, wie läuft's denn, Kumpel?«, gab er immer die gleiche Antwort: »Okay.«
    »Irgendwelche Schwierigkeiten? Probleme? Klappt's mit den Hausaufgaben?«
    »Ja, klar.«
    »Schon Freunde gefunden?«
    »Läuft schon.«
    »Es hat's hoffentlich auch niemand auf dich abgesehen oder so was?«
    Kopfschütteln, den Blick zu Boden gesenkt.
    »Denn wenn das passieren sollte, musst du mir das sofort sagen. Wir dulden so einen Unsinn nicht hier in Holland Park.« Es folgte eine lange Pause, und als Joel schließlich aufschaute, stellte er fest, dass der Lehrer, Mr. Eastbourne, ihn eingehend musterte.
    »Du würdest mich doch nicht anlügen, oder, Joel? Mein Job ist es, deinen Job hier leichter zu machen, okay? Und du weißt, was dein Job in Holland Park ist, ja?«
    Joel schüttelte den Kopf.
    »Weiterzukommen«, erklärte Eastbourne. »Bildung zu erlangen. Das willst du doch, oder? Denn du musst es wollen, um Erfolg zu haben.«
    »Okay.« Joel wollte nur noch weg und diesem forschenden Blick entfliehen. Hätten achtzehn Stunden Hausaufgaben am Tag dazu geführt, dass er für Mr. Eastbourne und alle anderen hier unsichtbar würde, hätte er sie dankend in Kauf genommen. Er hätte alles dafür getan.
    Die Mittagspause war das Schlimmste. Wie in jeder Schule fanden die Jungen und Mädchen sich auch hier zu Gruppen zusammen, von denen jede einzelne eine bestimmte Ausrichtung hatte, die nur ihren Mitgliedern bekannt war. Diejenigen Teenager, die als beliebt angesehen wurden - ein Etikett, das sie sich selbst verliehen hatten, das aber offenbar niemand infrage stellte -, hielten sich in deutlicher Distanz von den Strebern auf. Die Streber blieben auf Abstand zu all jenen, deren Zukunft auf einen Job an der Supermarktkasse beschränkt schien. Die Sozialkritischen machten einen Bogen um die Unpolitischen. Die Markenbewussten glaubten sich jenen überlegen, die für dergleichen nur Verachtung übrig hatten. Natürlich gab es dazwischen Inseln von Individuen, die in keine dieser Gruppen passten, aber sie waren die Außenseiter, die selber nicht wussten, wie man jemanden willkommen hieß. Also blieb Joel während der Mittagspausen für sich.
    So hatte er es mehrere Wochen lang gehalten, bis ihn eines Tages jemand ansprach. Er stand an seinem üblichen Essplatz -nahe dem Schultor an dem Kabuff des Sicherheitspersonals, wo ihn vom Schulhof aus niemand sehen konnte -, als er die Stimme hörte. Eine Mädchenstimme. »Warum isst du denn hier, Mann?«, fragte sie.
    Als Joel erkannte, dass er gemeint war, und aufschaute, entdeckte er ein pakistanisches Mädchen mit einem marineblauen Kopftuch, das auf dem Weg Richtung Schulhof stand, als habe der Wachmann es gerade erst aufs Gelände gelassen. Die Schuluniform war ihr ein paar Nummern zu groß und verbarg erfolgreich, was immer ihr an weiblichen Rundungen zu eigen sein mochte.
    Da es Joel bislang gelungen war, von niemandem außer den Lehrern angesprochen zu werden, wusste er nicht recht, wie er reagieren sollte.
    »Hey! Biste stumm oder was?«
    Joel wandte den Kopf ab, er spürte sein Gesicht heiß werden, und er wusste genau, was das mit seiner seltsamen Gesichtsfarbe anstellte. »Nein«, antwortete er leise.
    »Also, was treibste dann hier?«
    »Essen.«
    »Das seh ich, Mann. Aber hier isst keiner. Is' nich' ma' erlaubt. Wieso hat dir keiner gesagt, wo du essen solls'?«
    Er zuckte die Schultern. »Stört doch kein', wenn ich hier steh, oder?«
    Sie kam näher und postierte sich vor ihm. Damit er sie nicht ansehen musste, stierte er auf ihre Schuhe hinab. Sie waren schwarz mit jeder Menge Riemchen - die Sorte Schuhe, die man in einem trendigen Laden sah. Sie wirkten irgendwie fehl am Platz, und Joel

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