Am Ende war die Tat
abholen musste.
Dieses Problem kostete sie weitere zehn Tage. Es hätte einfach sein können, denn rund um Edenham Estate lagen Grundschulen in allen Richtungen, einige davon sogar direkt an dem Weg, den Tobys Geschwister zur Bushaltestelle nahmen. Aber Genera hatte kein Glück: Entweder gab es in diesen Schulen keine freien Plätze oder keine geeignete Betreuung für jemanden mit Tobys »besonderen Bedürfnissen«, wie sie es nach einer kurzen Unterhaltung mit dem Jungen nannten. Genera fing bereits an zu befürchten, sie müsse das Kind permanent bei sich behalten - ein schrecklicher Gedanke! -, als die Direktorin der Middle Row School sie auf das Westminster Learning Centre an der Harrow Road aufmerksam machte, nur ein kurzes Stück vom Laden der AIDS-Stiftung entfernt. Toby könne die Middle Row School besuchen, erklärte sie, vorausgesetzt, er nehme zusätzlich Sonderunterricht im Lernzentrum. »Um seine Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen«, fügte die Direktorin hinzu, als glaube sie tatsächlich, so etwas wie Förderunterricht könne seine psychischen Probleme beheben.
Es war, als sei alles vorherbestimmt. Auch wenn Middle Row für Ness und Joel nicht auf dem direkten Weg zur Bushaltestelle lag, trennte doch nur ein fünfminütiger Fußweg Tobys Schule von der Haltestelle an der Ladbroke Grove. Und Toby nach der Schule im nahen Lernzentrum zu wissen, bedeutete, dass sie auch ein Auge auf Ness und Joel haben konnte, die ihren kleinen Bruder jeden Tag dorthin bringen sollten. Kendras Plan sah vor, dass die älteren Geschwister sich bei dieser Aufgabe abwechseln und auf dem Weg bei ihr vorbeischauen sollten.
Bei all dem hatte Genera die Rechnung ohne Ness gemacht. Das Mädchen ließ ihre Tante denken und planen, was immersie wollte. Sie war recht geschickt darin geworden, Genera Sand in die Augen zu streuen, und wie so viele Halbwüchsige, die sich allmächtig vorkommen, weil es ihnen eine Zeit lang gelungen ist, unbemerkt über die Stränge zu schlagen, glaubte sie, sie könne ewig so weitermachen.
Natürlich täuschte sie sich.
Die Holland Park School schien ein Widerspruch in sich. Sie lag in einer der besten Wohngegenden Londons: ein grünes Viertel mit freistehenden Stadtvillen aus roten Ziegeln und weißem Stuck, ansprechenden Mehrfamilienhäusern mit teuren Apartments und unerschwinglichen Maisonettewohnungen. Die große Mehrheit der Schüler kam jedoch aus den verrufenen Siedlungen nördlich der Themse. Die Anwohner des Viertels waren weiß, die Schüler der Holland Park School hingegen bewegten sich ausschließlich auf der Farbskala von Braun bis Schwarz.
Joel Campbell hätte blind oder dumm sein müssen, um zu glauben, er passe in die unmittelbare Umgebung der Schule. Nachdem er herausgefunden hatte, dass es zwei Wege vom 52er Bus zur Schule gab, wählte er immer den, der ihn weniger abweisenden Blicken von Frauen in Kaschmirmänteln aussetzte, die ihre Yorkshireterrier ausführten - oder auch denen ihrer Kinder, die von Au-pair-Mädchen in Range Rovern zu besseren Schulen gefahren wurden. Er wählte den Fußweg, der ihn zur Ecke Notting Hill Gate führte. Von dort ging er in westlicher Richtung zur Campden Hill Road, statt weiter mit dem Bus zu fahren, was ihn gezwungen hätte, einige jener Straßen entlangzugehen, in die er so gut gepasst hätte wie ein verbeulter Käfer in eine Rolls-Royce-Ausstellung.
Vom ersten Tag an absolvierte er den Schulweg allein, nachdem er Toby am Tor der Middle Row School abgeliefert hatte. Ness - in die graue Schuluniform gekleidet und mit einem Rucksack auf dem Rücken - ging nur mit bis zur Golbourne Road. Dort verließ sie ihre Brüder und zog ihrer Wege, ihr Busgeld in der Tasche.
Wieder und wieder schärfte sie Joel ein: »Wehe, du verpfeifs' mich! Dann kannste was erleben!«
Joel nickte und schaute ihr nach. Er hätte ihr gern gesagt, dass es nicht nötig sei, ihm zu drohen. Er werde sie niemals verpfeifen. Wann hätte er das je getan? Zum einen war sie seine Schwester, aber selbst wenn nicht, kannte er doch die wichtigste Regel der Kindheit und Pubertät: Dichthalten! Auf dieser Basis operierten er und Ness. Er hatte keine Ahnung, was sie außer Schuleschwänzen noch so alles anstellte, und sie erzählte ihm auch nichts.
Er hätte sie trotzdem gern an seiner Seite gehabt, nicht nur bei der Aufgabe, Toby jeden Morgen und Nachmittag zu begleiten, sondern auch bei der Erfahrung, der Neue an der Holland Park School zu sein. Denn diese Schule schien Joel
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