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Am Ende war die Tat

Am Ende war die Tat

Titel: Am Ende war die Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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fragte sich, ob sie unter der übergroßen Uniform vielleicht noch andere trendige Sachen trug. Das hätte vermutlich seine Schwester getan, und dieses Mädchen mit Ness in Verbindung zu setzen, linderte seine Verlegenheit ein wenig. Das war wenigstens eine bekannte Größe.
    Sie beugte sich vor und fixierte ihn. »Ich kenn dich«, sagte sie dann. »Du komms' mit dem Bus. Mit dem 52er. Wie ich. Wo wohns' du?«
    Er sagte es ihr, wagte einen flüchtigen Blick auf ihr Gesicht. Der Ausdruck verwandelte sich von neugierig in überrascht. »Edenham Estate? Da wohn ich auch. Im Hochhaus. Ich hab dich da noch nie geseh'n. Wo steigste denn ein? Nich' an meiner Haltestelle, aber ich hab dich im Bus geseh'n.«
    Er erklärte ihr, dass er einen kleinen Bruder habe, den er zur Schule bringen müsse. Ness erwähnte er nicht.
    Das Mädchen nickte und erwiderte dann: »Ach so. Ich heiß Hibah. Wer is'n dein Vertrauenslehrer?«
    »Mr. Eastbourne.«
    »Reli?«
    »Mrs. Armstrong.«
    »Mathe?«
    »Mr. Pearce.«
    »Oh. Der is' echt fies. Biste gut in Mathe?«
    Das war er, aber er wollte es lieber nicht zugeben. Er hatte Spaß an Mathematik. Es war ein Fach mit Antworten, die entweder richtig oder falsch waren. Da wusste man, woran man war.
    Hibah fragte: »Haste auch 'n Namen?«
    »Joel.« Und er fügte noch etwas hinzu, obwohl sie nicht gefragt hatte: »Ich bin neu hier.«
    »Is' klar«, sagte sie, und er fühlte sein Gesicht wieder heiß werden, weil es verächtlich klang. »Weil du hier allein rum- hängs'«, erklärte sie. »Da hab ich mir das gedacht. Und ich hab dich hier auch schon mal geseh'n.« Sie nickte zum Tor hinüber, das das Schulgelände vom Rest der Welt trennte. »Mein Freund kommt fast jeden Mittag hierher«, fügte sie hinzu. »Drum hab ich dich geseh'n, wenn ich zum Tor geh, wenn ich mit ihm rede.«
    »Geht der hier nich' zur Schule?«
    »Der geht nirgendwo zur Schule. Müsste eigentlich, geht aber nich'. Ich treff mich hier mit ihm, weil wenn mein Dad mich je mit ihm seh'n würd, würd er mich grün und blau prügeln. Moslem«, fügte sie hinzu, und das Eingeständnis schien sie verlegen zu machen.
    Joel wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, also sagte er gar nichts.
    »Neunte Klasse«, sagte Hibah. »Aber wir könn' Freunde sein. Sonst nix, kapiert, weil wie gesagt, ich hab 'n Freund. Aber Freunde könn' wir ja trotzdem sein.«
    Dies war ein so überraschendes Angebot, dass Joel wie gelähmt war. So etwas hatte noch nie irgendjemand zu ihm gesagt, und er konnte sich nicht vorstellen, warum Hibah es tat. Hätte er sie gefragt, wäre Hibah selbst wohl kaum in der Lage gewesen, es zu erklären. Doch ihr inakzeptabler Freund und ihre Lebensperspektive hatten sie zwischen die Frontlinien zweier verfeindeter Welten katapultiert, sodass sie wusste, wie es sich anfühlte, fremd zu sein. So kam es, dass Hibah mehr Mitgefühl aufbringen konnte als ihre Altersgenossen, und so wie Magneten einander anziehen, findet ein Außenseiter den anderen, selbst wenn er sich dessen gar nicht bewusst ist. Das war auch bei Hibah der Fall.
    Als Joel nicht reagierte, sagte sie schließlich: »Scheiße. Ich hab nich' die Krätze oder so. Na ja, egal. Wir könn' ja im Bus Hallo sagen. Das bringt dich nicht um, oder?« Und damit ging sie davon.
    Die Glocke läutete zum Ende der Pause, ehe Joel Hibah einholen und ihr seinerseits Freundschaft anbieten konnte.
    3
    Was Freundschaft anging, entwickelten die Dinge sich für Ness vollkommen anders, jedenfalls oberflächlich betrachtet. Wenn sie sich morgens von ihren Brüdern trennte, tat sie, was sie seit ihrem ersten Abend in North Kensington getan hatte: Sie traf sich mit ihren Freundinnen Natasha und Six. Dazu trennte sie sich in der Nähe der Portobello Bridge von Joel und Toby und blieb dort stehen, bis sie sicher war, dass die Jungen nicht sehen würden, welche Richtung sie einschlug. Sobald sie außer Sichtweite waren, machte sie kehrt, ging am Trellick Tower vorbei und dann in nördlicher Richtung nach West Kilburn.
    Auf ihrem Weg ließ sie höchste Vorsicht walten, denn um ihr Ziel zu erreichen, musste sie die Fußgängerbrücke über den Grand Union Canal überqueren, die sie ausgerechnet zur Harrow Road brachte, gar nicht weit von dem Wohltätigkeitsladen entfernt, wo ihre Tante arbeitete. Obwohl Ness für gewöhnlich lange vor Beginn der Öffnungszeiten dort vorbeikam, bestand immer die Gefahr, dass Genera eines Tages beschloss, früher zur Arbeit zu gehen, und das Letzte, was Ness

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