Am Ende war die Tat
Absichten. Dein Weg in die Zukunft. Ich persönlich, zum Beispiel, wäre gerne Filmproduzent. Kein Schauspieler, weißt du, denn auf Dauer könnte ich es nicht ertragen, von anderen herumkommandiert zu werden und gesagt zu bekommen, wie ich mich zu verhalten habe. Und auch kein Regisseur, denn ebenso wenig könnte ich es ertragen, derjenige zu sein, der andere herumkommandiert. Aber Produzent ... Ah, das war meine Leidenschaft. Dem Traum anderer Menschen Leben einzuhauchen und ihn wirklich werden zu lassen.«
»Haben Sie das schon mal gemacht?«
»Oh ja. Ich habe zwanzig Filme produziert. Und dann bin ich hierhergekommen.«
»Warum sind Sie nich ' in Hollywood?«
»Mit einem Filmsternchen an jedem Finger?« Ivan schüttelte sich theatralisch und entblößte dann seine schlechten Zähne zueinem Lächeln. »Nun, genug davon. Darüber sollten wir uns ein andermal unterhalten.«
Im Verlauf der folgenden Wochen hatten sie viele solcher Unterhaltungen, wenngleich Joel dabei seine dunkelsten Geheimnisse stets für sich behielt. Ivan erfuhr immerhin, dass Joel und seine Geschwister bei ihrer Tante lebten, nicht aber, aus welchem Grund. Er erfuhr auch, dass Joel Toby täglich von der Middle Row School abholte, damit der kleine Junge nicht allein gehen musste, aber wohin er ihn brachte und warum, waren Themen, die bei den Gesprächen mit seinem Mentor nie Erwähnung fanden. Und Ivan erfuhr, dass Ness eine notorische Schulschwänzerin und dass dieses Problem durch den einen Anruf der Schulaufsicht bei Kendra Osborne nicht gelöst worden war.
Von diesen wenigen Einblicken abgesehen, war es meist Ivan, der redete. Joel lauschte und gewöhnte sich an die eigentümliche Sprache des Mannes. Er ertappte sich sogar dabei, dass er Sympathie für Ivan Weatherall entwickelte und sich auf die Zusammenkünfte freute. Doch gerade diese Sympathie stimmte Joel noch unwilliger, offen zu sprechen. Denn er nahm an, dass genau das der Sinn dieser Treffen war, und wenn er schließlich etwas von sich preisgäbe, würde man ihn als »geheilt« betrachten - geheilt von was auch immer ihm nach Meinung der Schulleitung fehlte. Er würde sich nicht mehr mit Ivan treffen dürfen, und Joel wollte nicht, dass dies eintrat.
Es war Hibah, die Joel einen Weg aufzeigte, Ivan weiterhin sehen und vor allem hören zu können, selbst wenn die Schule zu dem Schluss käme, es wäre nicht mehr nötig. In der vierten Woche ihrer Bekanntschaft sah sie Joel mit dem Mentor aus der Schulbibliothek kommen, und später am Nachmittag setzte sie sich im Bus neben ihn, um ihn ins Bild zu setzen.
»Du triffs ' dich mit diesem Bekloppten, was?«, begann sie. »Sei bloß vorsichtig mit dem.«
Joel, der mit einer kniffligen Matheaufgabe beschäftigt war, erkannte zuerst gar nicht, welche Drohung hinter ihren Worten lag. »Hä?«, fragte er.
»Dieser Typ, Ivan. Der gibt sich gern mit Kindern ab.«
»Das is ' doch sein Job, oder?«
»Ich red nich ' von der Schule«, erklärte sie. »Anderswo. Wars - te schon mal bei Paddington Arts?«
Joel schüttelte den Kopf. Er wusste nicht einmal, was Paddington Arts war, geschweige denn wo.
Hibah klärte ihn auf. Paddington Arts war ein Zentrum für künstlerische Projekte unweit des Grand Union Canal auf Höhe der Great Western Road. Dort wurden Kurse angeboten - eine weitere Offerte an die Jugendlichen der Gegend, etwas anderes mit ihrer Zeit anzufangen, als in Schwierigkeiten zu geraten. Ivan Weatherall war einer der Lehrer dort.
»Das behauptet er jedenfalls«, fuhr Hibah fort. »Ich hab aber auch schon andere Sachen gehört.«
»Von wem?«, fragte Joel.
»Von meinem Freund. Er sagt, Ivan steht auf Jungs. Jungs wie dich, Joel, verstehste . Mischlingsjungs . Und mein Freund muss es wissen.«
»Wieso?«
Sie verdrehte vielsagend die Augen. » Kannste dir doch vor- stell'n . Du bis' doch nich ' blöd, oder? Außerdem haben das außer meinem Freund auch noch andere gesagt. Ältere Typen, die hier aufgewachsen sind. Dieser Ivan wohnt hier seit Ewigkeiten, und es war immer schon dasselbe mit ihm. Also, pass bloß auf.«
»Er macht nie was anderes als mit mir reden«, versicherte Joel.
Wieder Augenrollen. » Biste wirklich so dämlich? So fängt's doch immer an.«
Kendras Lüge gegenüber der Schulaufsicht der Holland Park School führte dazu, dass einige Wochen ins Land gingen, ehe Ness' Abwesenheit von der Schule die nächste Phase behördlicher Besorgnis einläutete. Ness verfuhr noch immer annähernd genauso wie zuvor, mit
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