Am Ende zählt nur das Leben
Wenn ein Bein abknickt, dann bricht der Stuhl zusammen. In diesem Fall war es mein Trennungswunsch, der das Gleichgewicht vollkommen zerstörte. Es hätte aber auch ein Problem in der Firma sein können, um das fragile Konstrukt zu zerstören, oder eine mögliche Zahlungsunfähigkeit und Cays Verschuldung. Bei seiner Art der Depression war er offenbar nicht in der Lage, die Schieflage und damit den Sturz abzufangen.
Ich suchte nach weiteren Erklärungen und fragte mich immer wieder, ob ich etwas hätte merken müssen. Und ob ich anders hätte handeln müssen. In Frau Precht fand ich einen Adressaten für meine Fragen. Viele ihrer Antworten brachten mich auf neue Gedanken und erleichterten mich. Und nicht nur mein Leben wurde durch die Therapie leichter, sondern insbesondere auch Roberts.
»Es tut so gut, dass du nun jemanden hast, mit dem du über deine Probleme sprechen kannst und bei dem du dein Herz ausschüttest. Ich freue mich so für dich«, sagte Robert eines Abends, als ich von der Therapiestunde nach Hause kam.
»Ich freue mich auch. Meine größte Stütze bist du, aber bei Frau Precht bekomme ich Antworten auf so viele Fragen, und sie gibt mir Lebenshilfe.«
»Du weinst viel seltener.«
»Ja, das ist gut so. Lachen ist ohnehin viel gesünder, aber man kann es nicht erzwingen. Es ist so spannend, was sie mir alles zeigt, damit ich Kraft schöpfen und Ängste abbauen kann.«
»Sie scheint die richtige Methode zu kennen. Ich kann dir ohnehin nur immer wieder das Gleiche sagen: Schau nach vorn! Wie gut, dass jetzt jemand da ist, der mit dir irgendwann auch zurückschauen kann, ohne dich damit zu verletzen. Du bist in letzter Zeit viel entspannter.«
»Ja, das merke ich auch. Ich kann einen Teil meiner Belastungen in der Therapie abladen, aber mit dem Zurückschauen ist es noch nicht so einfach. Leider kann ich dir nicht ganz genau erklären, wie ihre Methode funktioniert, weil ich den Ablauf nicht vollständig erinnern kann, aber ich weiß, wie gut es mir tut.«
»Klingt alles sehr spannend.«
»Ist es auch. Ich bin so froh darüber, in der Klinik gelandet zu sein. Das hätte ich viel früher machen sollen.«
»Wer wird denn da gleich ungeduldig?«, neckte er mich.
Ich musste lachen. Gab ein besseres Zeichen meiner Fortschritte als meine Ungeduld?
Zur gleichen Zeit zogen Robert und ich in eine Wohnung. Wir wollten den Alltag zu zweit erleben, gemeinsam aufwachen und gemeinsam einschlafen. Das gegenseitige Besuchen reichte uns nicht mehr. Wir gehörten zusammen und wollten ein Zuhause teilen. Mit meinem neu gewonnenen Mut und meiner erwachenden Kraft fühlte ich in manchen Momenten, wie das Glück in mein Leben zurückkehrte. Die Gespräche zwischen Robert und mir drehten sich nun zunehmend um Alltägliches und nicht mehr nur um Tragisches und Trauriges. Stundenlang konnten wir über unsere Wohnungseinrichtung sprechen, blätterten in Möbelkatalogen und besprachen kleinere Anschaffungen. Welcher Schrank passt ins Schlafzimmer? Wie hoch ist die Decke? Wo befindet sich das Fenster, und wie kann das Bad hübscher werden?
Das gemeinsame Planen machte mir Spaß, denn dabei konnte ich andere Themen vergessen. Und wenn sich doch die belastenden Erinnerungen aufdrängten, dann versuchte ich sie im Tresor zu verschließen. Diese Methode beherrschte ich immer besser, und es erleichterte mein Leben, dass ich eine Technik parat hatte, die mich einen Teil meiner Gedanken kontrollieren und in spezielle Bahnen lenken ließ. Zuvor war es umgekehrt gewesen: Meine Gedanken und schlimmen Erinnerungen hatten Macht über mich und konnten mich in einen dunklen Tunnel drängen, aus dem ich kaum mehr herausfand.
Und was das Schönste an den Veränderungen durch die Therapie war: Robert und ich konnten neuerdings sogar über unsere Zukunft sprechen.
»Hast du nicht mal wieder Lust auf Sport? Wie wäre es, wenn wir zusammen ins Fitnessstudio gehen?«, fragte er mich eines Abends.
»Warum eigentlich nicht?«
»Dann also im neuen Jahr!«
»Abgemacht!«
»Und was hältst du davon, wenn wir mal wieder essen gehen? Lass uns doch morgen nach Hamburg fahren. Dort kenne ich ein tolles mexikanisches Restaurant. Ich möchte dich einladen.«
»In Hamburg?«
»Warum nicht?«
Gesagt, getan. Am nächsten Abend saßen wir im Wagen und fuhren nach Hamburg. Wir fanden einen Fensterplatz beim Mexikaner und ließen es uns schmecken. Ich konnte lachen und für einige Stunden ein verliebtes Mädchen ohne Sorgen sein. Niemand sah uns
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