Am Ende zählt nur das Leben
an, was wir in der jüngsten Vergangenheit erlebt hatten. Wir waren ein ganz normales Paar in den Zwanzigern.
Robert und ich kannten uns nun seit über sieben Jahren. Wenn ich mir vorstellte, was in dieser Zeit alles passiert war, dann kam ich mir manchmal viel älter vor. Gleichzeitig fühlte ich mich jung und verliebt wie damals, als Robert noch zur Schule ging und ich im ersten Lehrjahr war. Manchmal versuchte ich gedanklich an diese Zeit anzuknüpfen und die Jahre dazwischen zu verdrängen. Aber das klappte meistens nicht, denn auf keinen Fall wollte ich die Erinnerungen an meinen Engel verdrängen. Manchmal hörten Robert und ich, wie unsere Familien über uns sprachen. Ihr wart schon immer füreinander bestimmt.
Neue Normalität
Die Weihnachtstage verbrachten wir abwechselnd bei unseren Eltern. Mithilfe meiner Therapeutin hatte ich ausreichend Übung darin, meine schlechten Erinnerungen in den Tresor zu sperren, wenn es notwendig war. Insbesondere an solchen erinnerungsschweren Tagen war diese Technik hilfreich, um weder in Traurigkeit zu versinken noch den anderen das Fest zu vermiesen. Nach und nach gelang es mir immer besser, das Verschließen in den Tresor anzuwenden und die schönen Stunden einfach nur zu genießen, ohne in ein tiefes Tal zu fallen. Der Abgrund war in eine Ferne gerückt, die ich kontrollieren konnte. Ich ging nicht einmal nah an die Kante heran, ich gab den schlechten Erinnerungen keinen Raum, sie durften keine Macht über mich gewinnen: Ich kontrollierte, ich sperrte ein, ich hatte den Schlüssel, ich hatte die Macht. Es kostete mich Kraft, aber die gab ich, denn ich wusste, wie viel mehr Kraft das Herauskommen aus dem tiefen Tal kostete.
Robert und ich gingen am späten Nachmittag des 24. Dezember zunächst in die Christvesper und lauschten der Weihnachtserzählung von der Geburt Jesu. Dabei saßen wir eng nebeneinander, hielten uns an den Händen und genossen die Stimmung. Kaum hatte der Pastor jedoch zur Predigt angesetzt, gingen mir seine Worte direkt ins Herz. Manche von uns haben einen geliebten Menschen verloren. Sofort schossen mir Tränen in die Augen. Ich weinte und weinte und ließ es geschehen. Es fühlte sich an, als wären hier der richtige Ort und der richtige Moment für meine Tränen.
Als wir nach dem Gottesdienst meine Eltern besuchten, wo meine gesamte Familie versammelt war, konnte ich schon wieder lachen. Auch wenn Sarah mir an diesem Tag unendlich fehlte, wollte ich ein schönes und fröhliches Fest feiern. Seit ihrem Tod waren anderthalb Jahre vergangen. Ich stellte mir vor, wie sie mit ihren Cousins und Cousinen auf den Weihnachtsmann wartete, dann unterm Christbaum nach Geschenken suchte und ihre Augen um die Wette leuchteten. Im neuen Jahr wäre sie vier Jahre alt geworden, schon ein großes Mädchen. Die Kinder waren aufgeregt und fröhlich, und ich machte meine Scherze mit ihnen. Sie sollten ihre Tante als einen lebensfrohen Menschen erleben, denn das Leben konnte doch so schön sein. Auf keinen Fall wollte ich durch Trübsinn das Fest vermiesen. Im Gegenteil, ich konnte die schöne Stimmung sogar genießen.
Meine Mutter schien während der Weihnachtstage immer wieder mit den Tränen zu kämpfen. Sie schluckte sie hinunter, wandte sich ab und kam wenig später zurück in den Kreis der Familie. Ich bildete mir ein zu wissen, was sie dachte. Er hat alles kaputt gemacht.
Am nächsten Tag feierten wir mit Roberts Eltern ein ebenso herzliches und besinnliches Fest, an dem auch Basti teilnahm. In letzter Zeit sah ich ihn nur noch selten, und so freute ich mich, ihn wiederzutreffen. Hier hatte Basti seine Ersatzfamilie gefunden, und auch ich fühlte mich längst wie ein Mitglied dieser Familie. Es war ein schönes Weihnachten, und ich konnte mir vorstellen, noch viele schöne Feste zu feiern: ohne Wenn und Aber. Das Beisammensein mit den Liebsten war mir wertvoller denn je. Ich war dankbar für solche Momente und konnte sie wirklich genießen. Was ich niemals für möglich gehalten hatte, war eingetreten: Das Leben hatte seine schönen Seiten zurückbekommen.
Wenn ich mich alle vierzehn Tage ins Auto setzte und zur Therapiestunde in die Klinik fuhr, drehte ich während der Fahrt den CD -Player auf und hörte Musik. In letzter Zeit hatte es mir ein Lied der Ärzte besonders angetan, und ich sang manche Strophen mit:
Jetzt wirst du natürlich mit Verachtung bestraft
Bist eine Schande für die ganze Nachbarschaft
Du weißt noch nicht einmal genau wie sie
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