Am Ende zählt nur das Leben
Sie wurden zu meinen Lieblingsübungen, auf die ich gern zurückgriff, wenn ich Sicherheit brauchte.
Immer stärker befasste ich mich mit dem Thema Depression, denn meine posttraumatische Belastungsstörungzeigte sich auch in einem depressiv getönten Stimmungsbild, wie meine Therapeutin es ausdrückte. Als ich alles gelesen hatte, was ich über das Thema Depression finden konnte, und es mit meinen Erfahrungen abzugleichen versuchte, begann ich immer mehr Fragen zu stellen. Von meiner Therapeutin erhoffte ich mir nicht nur Erklärungen zu meinen eigenen depressiven Stimmungsbildern, sondern insbesondere auch zu all jenem, was mir unverständlich geblieben war und was ich nur schwer auf Cay und sein Verhalten übertragen konnte. Ich wollte endlich wissen, was mit ihm los war und weshalb ich von seiner depressiven Erkrankung nichts gemerkt hatte. Doch manche Fragen mussten noch warten, denn in erster Linie ging es um meine Therapie und um meine Probleme.
Frau Precht arbeitete behutsam und in einer Form, die ich nachvollziehen konnte. Sie erklärte mir jeden einzelnen Schritt und jede Phase der Therapie, doch seltsamerweise erinnerte ich mich nach den Sitzungen meist nur an die Atmosphäre und vergaß bestimmte Abläufe sofort wieder. Es fiel mir schwer, im Nachhinein zu erzählen, was genau wir gemacht hatten. Aber ich wusste, dass mich jedes Gespräch und jede Übung erleichterten.
Ganz allmählich schloss sich der ersten Phase der Stabilisierung die Phase der sogenannten Traumaexposition an. Erst dabei konnten wir an dem schwierigsten Thema arbeiten: dem Tod meiner Tochter.
Meine Therapeutin nahm sich Schritt für Schritt meiner belastenden Erinnerungen an. Manche Therapiestunden erschienen mir wie Übungen und Gespräche in einem isolierten Raum. Nichts drang nach außen, ich vergaß manchmal den Inhalt der Sitzung, aber ich spürte die positive Wirkung. Selbst wenn ich hinterher versuchte, unsere Gespräche und ihre Techniken wiederzugeben, hatte ich den Ablauf oft vergessen und konnte es nicht, sosehr ich mich auch konzentrierte. Aber eines wusste ich genau: Meine Therapeutin gab mir Kraft und Mut, und sie befreite mich von unerträglichen Lasten.
Als sie die sogenannte EMDR -Methode anwendete, war ich zunächst überrascht von der Vorgehensweise. Die Abkürzung EMDR steht für das englische Eye Movement Desensitization and Reprocessing.
»Es handelt sich um eine Augenbewegungstherapie, aber es geht dabei nicht um Hypnose. Sie bleiben die ganze Zeit bei klarem Bewusstsein. Das ist sogar entscheidend für die Wirkung dieser Methode«, erklärte sie mir.
Frau Precht setzte sich mir gegenüber und forderte mich auf, mir eine belastende Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen. Sofort tauchte bei mir der Moment auf, als die Polizei die Nachricht vom Tod meiner Tochter überbrachte. Mein Puls schnellte in die Höhe, und ich fühlte mein Herz pochen.
Was ich allzu oft selbst erfahren hatte, trat auch nun augenblicklich ein: Die Erinnerung an traumatische Momente ist eng gekoppelt an negative Gefühle und körperliche Reaktionen.
Sie bat mich, auf ihre Handbewegungen zu schauen, während ich weiterhin an den traumatischen Moment dachte. Dann führte sie ihre Hand in einer Armlänge Abstand auf Höhe meiner Augen hin und her. Als würden sie dem Pendel einer Standuhr folgen, bewegten sich meine Augen in steter Folge von einer Seite zur anderen.
Eines der Ziele der EMDR -Methode bestand darin, die Koppelung von Erinnerungen und negativen Gefühlen aufzubrechen. Doch das erfuhr ich erst viel später. Ich konnte mich auch ohne theoretische Erklärungen auf diese Methode einlassen. Trotzdem war ich inzwischen so therapieerfahren, dass ich mit dem Begriff Auslöserreize sofort etwas verbinden konnte. In meinem Leben gab es viele solcher Auslöserreize für die Erinnerung an traumatische Momente. Sobald ich auf einen dieser Reize stieß, spürte ich Angst, und mein Puls schnellte nach oben. Es konnte eine Mutter sein, die nach ihrer Tochter Sarahrief. Oder der Anblick einer Badewanne oder das Weinen eines kleinen Mädchens.
»Mit dieser Methode sind Erinnerungen veränderbar«, erklärte mir Frau Precht nach der ersten Sitzung. »Dafür müssen wir sie gezielt aktivieren, auch wenn dies schmerzhaft ist. Sobald wir Ihre belastenden Erinnerungen in einen wachen Zustand gebracht haben, wenden wir die Augenbewegungstherapie an. Es wird immer der gleiche Ablauf sein: zuerst die Erinnerung wachrufen, und im nächsten Schritt
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