Am Ende zählt nur das Leben

folgt das Einleiten der Augenbewegung, indem Sie mit Ihrem Blick dem langsamen Pendeln meiner Hand folgen.«
    Bereits nach der ersten Sitzung hatte ich den Eindruck, dass sich etwas in mir veränderte. Zu Hause erinnerte ich mich erneut an das belastende Ereignis, was ich sonst tunlichst vermied, aber dieses Mal schmerzte es tatsächlich weniger stark, und ich blieb innerlich ruhiger.
    Nach weiteren Sitzungen erschien mir die Methode wie Zauberei.
    »Wenn der Körper sich beim Erinnern entspannt, so wie wir es mit den Augenbewegungen auslösen, reagiert auch das Gehirn mit Entspannung und bewertet die Erinnerung neu. Die Angst verschwindet. Darum geht es im Grunde: um eine Neubewertung der Belastung durch das Gehirn.«
    »Wie kommt das?«, fragte ich fasziniert.
    »Neueste Studien haben gezeigt, dass die Herzfrequenz während der Anwendung der Methode deutlich sinkt, obwohl der Patient an traumatische Erlebnisse denkt. Die Augenbewegungen wirken beruhigend. Die Entspannung überwiegt schließlich den traumatischen Stress.«
    »Wie lange wird es dauern, bis ich meine Erinnerungen positiv überlagert habe?«, wollte ich wissen.
    »Manchmal genügen einen Handvoll Sitzungen. Wichtig ist jedoch die vorherige Stabilisierung. Damit haben wir uns in den letzten Monaten ausgiebig beschäftigt, Frau B. Inzwischen sind Sie in der Lage, sich kurzzeitig bewusst den Erinnerungen auszusetzen. Nun können wir mit der Methode weiterarbeiten. Diese Behandlungsform des Wiedererinnerns von Traumainhalten kann natürlich zu Belastungen im seelischen und körperlichen Bereich führen, aber Sie sind inzwischen stabil genug dafür. Ich verspreche mir eine schnelle Besserung für Sie.«
    Ich war begeistert von der Wirkung meiner ersten Sitzung mit der EMDR -Methode und forschte im Internet nach Hintergründen. Die Anwendung war in Deutschland relativ neu und erst seit Kurzem als wissenschaftliche Methode zur Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung anerkannt. EMDR bedeutet übersetzt nichts anderes als Augenbewegung zur Desensibilisierung , also zum Unempfindlichmachen mit dem Ziel einer Aufarbeitung des Traumas .
    Eine der körperlichen Auswirkungen von Sarahs gewaltsamem Tod war der ständig wiederkehrende Kloß in meinem Hals, und auch der Wackerstein in meinem Bauch bereitete mir Probleme. Der Kloß schmerzte und schien ein Knoten voller Probleme zu sein. Frau Precht brachte mich dazu, dieses unangenehme Gefühl abzuschwächen und in gewisser Weise umzuleiten. Ich lernte bestimmte Gedanken und unangenehme Gefühle wegzuleiten oder wegzudenken . Es waren Techniken, die mir halfen, mit der schmerzlichen Vergangenheit umzugehen und mich gleichzeitig für die Zukunft zu wappnen.
    Während ich mich immer stärker auf meine Therapie einließ, musste ich mich gleichzeitig damit abfinden, viele Aspekte von Cays Verhalten nicht begreifen zu können und im Dunklen zu belassen.
    Auch mein Rechtsanwalt war bei dem Versuch gescheitert, etwas über Cays angebliche Behandlung seiner psychischen Störungen zu erfahren. Wir wussten nicht, bei welchen Ärzten er jemals in Behandlung gewesen und welche Diagnose gestellt worden war.
    Die vielen offenen Fragen waren eine weitere Hürde beim Bewältigen meiner Schuldgefühle. Immer wieder sprach ich mit Frau Precht darüber. Hätte ich Sarahs Tod vermeiden können, wenn ich mich nicht von Cay getrennt hätte? Oder es ihm anders, schonender beigebracht hätte?
    »Es hätte auch ein anderes Ereignis sein können, um Ihren damaligen Mann aus der Bahn zu werfen. Sie dürfen nicht denken, dass es allein Ihr Trennungswunsch war, der zu den Ereignissen geführt hat«, sagte sie zu mir.
    »Welches Ereignis denn sonst?«, fragte ich. Dieses Thema war für mich zentral. Denn in den vergangenen Monaten hatte ich mich selbst immer wieder gegen alle Vernunft schuldig gesprochen. Hätte ich nicht, dann …
    Sie versuchte es mir anhand einer Vier-Stützen-Theorie zu erklären. Depressive Menschen wie Cay müssen ihr angeschlagenes Gleichgewicht unbedingt erhalten, um nicht zu fallen. Ich könne mir einen Stuhl mit vier Beinen vorstellen, die in ihrer Gesamtheit einen festen Stand garantieren. Eines der Stuhlbeine symbolisiere beispielsweise seinen Beruf und den Arbeitsplatz, eines die Ehe, ein anderes unsere Tochter und wieder ein anderes seine finanzielle Lage. Auch die Gesundheit und der Sport hatten eine Rolle gespielt. Ein depressiver Mensch brauche diese Stützen, um sein Leben einigermaßen zu meistern.