Am ersten Tag - Roman
Lama ihren Anhänger. »Wir glauben, dass uns die Armillarsphäre, die wir auf dem Berg Hua entdeckt haben, helfen wird, ihn zu lokalisieren. Wie, das wissen wir selbst noch nicht, doch über kurz oder lang werden wir sicher klarer sehen.«
»Was ist die eigentliche Funktion dieses wunderbaren Gegenstandes?«, fragte der Lama und schaute sich den Anhänger näher an.
»Es ist das Fragment einer Himmelskarte, die sehr viel früher entworfen wurde als die unter der Löwentatze.«
Der Lama sah uns beiden direkt in die Augen.
»Folgen Sie mir«, sagte er schließlich.
Er führte uns aus dem Kloster hin zu der Weide, unter der wir uns bereits beim ersten Mal getroffen hatten, und bat uns, Platz zu nehmen. Er fragte uns, ob wir bereit wären, ihm als Lohn für seine Gastfreundschaft diese lange Geschichte, die ihn so sehr interessiere, zu erzählen. Wir fühlten uns zu Dank verpflichtet und kamen seiner Bitte gerne nach.
»Wenn ich es recht verstanden habe«, schloss er, »ist der Gegenstand, den Sie um den Hals tragen, Teil einer Karte des Himmels, so wie er vor vierhundert Millionen Jahren aussah. Was, wie Sie zugeben müssen, unmöglich erscheint. Sie sagen, es würden weitere Fragmente dieser Karte existieren, die heute noch unvollständig ist. Sie zu vereinen würde deren Echtheit beweisen.«
»Genauso ist es.«
»Sind Sie sicher, das wäre der einzige Beweis, den Sie erbringen würden? Haben Sie über die Auswirkungen Ihrer Entdeckung
nachgedacht, über all die Gewissheiten dieser Welt, die damit über den Haufen geworfen würden?«
Ich gab zu, dass wir nicht viel Zeit gehabt hatten, uns Gedanken darüber zu machen. Wenn die Vereinigung der Fragmente uns ermöglichen würde, mehr über den Ursprung der Menschheit und, wer weiß, vielleicht über die Entstehung des Universums zu erfahren, so wäre diese Entdeckung von unschätzbarem Wert.
»Sind Sie da sicher? Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum unser Gedächtnis alle Erinnerungen der frühsten Kindheit auslöscht? Warum wir nichts von unseren ersten Augenblicken auf dieser Erde wissen?«
Keira und ich waren außerstande, diese Frage zu beantworten.
»Haben Sie die leiseste Ahnung von den Schwierigkeiten, die eine Seele bewältigen muss, um sich mit einem Körper zu vereinen und Leben in der uns bekannten Form hervorzubringen? Ich kann mir vorstellen, mit welcher Leidenschaft Sie, der Astronom, der Frage nach der Entstehung des Universums nachgehen, nach diesen ersten Momenten, diesem berühmten Big Bang, dieser phänomenalen Energieexplosion, die zur Geburt der Materie geführt hat. Glauben Sie, der Anfang eines Lebens wäre etwas anderes? Ist es nicht nur eine Frage des Maßstabs? Das Universum ist unendlich groß, wir sind unendlich klein. Und wenn diese beiden Geburten irgendwie ähnlich wären? Warum sucht der Mensch immer in der Ferne, was so nah liegt?
Vielleicht hat die Natur ja bewusst die Erinnerung an die ersten Momente ausgelöscht, um uns zu schützen und zu verhindern, dass wir uns der Qualen, die wir durchgemacht haben, um vom Leben Besitz zu ergreifen, entsinnen können. Und, wer weiß, vielleicht auch damit wir niemals in der Lage
sein werden, das Geheimnis dieser ersten Augenblicke zu verraten. Ich frage mich oft, was aus der Menschheit werden würde, wenn wir diesen Prozess wirklich verstünden. Würde sich der Mensch dann für einen Gott halten? Was sollte ihn daran hindern, alles zu zerstören, wenn er das Leben nach Gutdünken erschaffen könnte? Welchen Respekt würden wir dem Leben zollen, wenn wir das Geheimnis seiner Schöpfung lüften könnten?
Es steht mir nicht zu, Sie zu bitten, diese Reise zu beenden, oder gar über Ihr Unterfangen zu urteilen. Unsere Begegnung war vielleicht nicht zufällig. Dieses Universum, das Sie derart inspiriert, besitzt so viele ungeahnte Qualitäten, dass wir nicht die entfernteste Vorstellung davon haben, was der Zufall wirklich ist. Wenn diese Reise bereits dazu geführt hat, dass Ihre Wege sich gekreuzt haben, war das womöglich schon ihr eigentlicher Sinn, und vielleicht wäre es klüger, Sie würden es dabei bewenden lassen.«
Der Lama gab uns die Fotos zurück, stand auf, verabschiedete sich und kehrte ins Kloster zurück.
Am nächsten Tag fuhren wir erneut nach Lingbao und suchten ein Internetcafé auf, um unsere E-Mails abzufragen. Keira hatte Nachrichten von ihrer Schwester und ich von meinen Astrophysiker-Freunden, die mich beide baten, sie möglichst bald anzurufen. Als ersten
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