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Am ersten Tag - Roman

Am ersten Tag - Roman

Titel: Am ersten Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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eine Armillarsphäre, das heißt die Darstellung der beiden Himmel über unseren Köpfen, dem über der nördlichen und dem über der südlichen Halbkugel.«
    Die Entdeckung, die Keira soeben gemacht hatte, war fantastisch, und ich erklärte ihr alles in allen Einzelheiten.

    »Um die Mittellinie, die du hier siehst, ist dieser große Ring der Schnittpunkt der Äquatorialebene mit der Himmelskugel, die man Himmelsäquator nennt. Er teilt die Kugel in zwei Teile, Nord und Süd. Man kann jeden Punkt der Erde auf die Himmelskugel projizieren. Alle Sterne einschließlich der Sonne können darauf dargestellt werden.«
    Ich zeigte ihr die beiden Polarkreise, die Wendekreise, die Ekliptik, die Sonnenbahn, gesäumt von den Tierkreiskonstellationen. Dort die Kreise, die die Sonnenwenden und die Tag-und Nachtgleichen repräsentierten.
    »Wenn die Sonnenbahn die Äquatorialebene kreuzt, das heißt im Augenblick der Sonnenwenden, sind Tages- und Nachtlänge gleich. Der andere Ring, den du dort siehst, ist die Projektion der Sonnenbahn über der Himmelskugel. Hier der Ursae minoris , der Alphastern, bekannter unter dem Namen Polarstern. Er ist dem Himmelsnordpol so nah, dass er sich am Himmel nicht zu bewegen scheint.«
    Ich gestand Keira, in meinem ganzen Leben noch keine derart vollständige Darstellung gesehen zu haben. Die ersten Armillarsphären wurden von den Griechen im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung konzipiert, die Rillen in diesem Stein aber waren noch viel älter.
    Keira zog den Brief, den sie in ihre Tasche gesteckt hatte, wieder heraus und benutzte die Rückseite, um die Inschriften auf der Kugel abzumalen. Dabei stellte sie sich äußerst geschickt an.
    »Was machst du?«, fragte sie und blickte von ihrer Zeichnung auf.
    Ich zeigte ihr die kleine Kamera, die ich seit unserer Ankunft in China in meiner Jacke versteckt hatte. Ich weiß selbst nicht, warum ich ihr verheimlicht hatte, dass ich gewisse Augenblicke unserer Reise gerne verewigen wollte.

    »Was ist das?«, fragte sie, obwohl sie es sehr genau wusste.
    »Eine Idee meiner Mutter … eine Wegwerfkamera.«
    »Was hat deine Mutter damit zu tun? Hast du sie schon länger?«
    »Ich habe sie vor unserer Abreise in London gekauft. Betrachte das als ein Tarnungsaccessoire. Jeder Tourist hat eine Kamera bei sich.«
    »Hast du sie schon benutzt?«
    Ich lüge ziemlich schlecht, also beschloss ich, gleich mit der Wahrheit rauszurücken.
    »Ich habe dich zwei- oder dreimal fotografiert, während du schliefst, und einmal bei deinem Unwohlsein auf der Autobahn, das heißt, immer wenn du mir gerade keine Beachtung geschenkt hast. Jetzt mach nicht so ein Gesicht, ich wollte ein paar Erinnerungen mit nach Hause bringen.«
    »Wie viele Aufnahmen bleiben dir noch auf dem Apparat?«
    »Um ehrlich zu sein, ist dies schon der zweite, dieser Film hier ist noch leer.«
    »Wie viele von diesen Wegwerfdingern hast du gekauft?«
    »Vier … fünf vielleicht.«
    Ich war ziemlich verlegen und wollte das Thema möglichst schnell beenden. Ich näherte mich dem Löwen, begann den runden Stein zu fotografieren und machte Großaufnahmen von jedem Detail.
    Bald hatten wir genügend Material gesammelt, um alle in den Stein eingravierten Informationen später auswerten zu können. Ich hatte seinen Umfang mit Hilfe meines Hosengürtels gemessen, um, wenn wir wieder in London wären, einen Maßstab zu haben. Durch Zusammenfügen der Aufnahmen, die ich gemacht hatte, und mit Hilfe von Keiras Zeichnungen hätten wir eine originalgetreue Kopie. Jetzt war der Augenblick gekommen, den heiligen Berg zu verlassen. Ich prüfte den Sonnenstand
und schätzte, dass es ungefähr zehn Uhr sein musste. Wenn wir den Abstieg ohne Zwischenfälle bewältigen würden, wären wir vor Einbruch der Dunkelheit im Kloster.

    Völlig erschöpft erreichten wir unser Ziel. Die Klosterschüler hatten alles Nötige für uns vorbereitet: heißes Wasser zum Waschen, eine Mahlzeit mit viel Gemüsebrühe zum Ausgleich unseres Flüssigkeitsverlustes und genügend Reis, um uns wieder zu Kräften kommen zu lassen. Der Lama selbst erschien an diesem Abend nicht. Die Schüler erklärten uns, er meditiere und dürfe nicht gestört werden.
    Erst am nächsten Morgen trafen wir uns mit ihm. Wir waren ausgeschlafen und wiederhergestellt, hatten nur ein paar Schürfwunden und Blasen an Händen und Füßen.
    »Sind Sie mit Ihrem Ausflug zur Weißen Pyramide zufrieden?«, fragte der Lama zur Begrüßung. »Haben Sie gefunden, was

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