Am ersten Tag - Roman
Sie gesucht haben?«
Keira sah mich fragend an. Konnten wir diesen Mann ins Vertrauen ziehen? Vor unserem Aufbruch hatte er reges Interesse an der Astronomie gezeigt. Wäre es nicht töricht, ihn von dieser fantastischen Entdeckung fernzuhalten? Vielleicht könnte er uns ja irgendwie weiterhelfen. Ich erzählte ihm, wir hätten etwas Unglaubliches entdeckt, etwas, das unsere Erwartungen weit übertroffen hätte. Seine Neugier war augenblicklich geweckt, doch um zu erklären, worum es ging, musste ich zunächst meine Fotos entwickeln lassen. Was sie ihm enthüllen würden, wäre weit anschaulicher als all meine Erläuterungen.
»Sie machen mich neugierig«, sagte er. »Aber ich will mich gedulden und warten, bis diese Aufnahmen, die Sie mir zeigen wollen, entwickelt sind. Meine Schüler werden Sie zu Ihrem
Wagen bringen. Fahren Sie die Straße gen Osten, nach etwa sechzig Kilometern erreichen Sie Lingbao. Das ist eine von diesen modernen Städten, die in den letzten Jahren wie Unkraut aus dem Boden schießen. Dort werden Sie alles finden, was Sie brauchen.«
Mit dem Eselskarren wurden wir zu unserem Jeep gebracht, und zwei Stunden nachdem wir den Lama verlassen hatten, erreichten wir das Zentrum von Lingbao. Auf der großen Geschäftsstraße reihte sich ein Elektronikgeschäft an das andere. Wir wählten eines aufs Geratewohl. Ich vertraute einem Angestellten meine Wegwerfkamera an, und eine Viertelstunde später händigte er mir gegen hundert Yuan die zwanzig Fotos aus, die ich auf dem Hua Shan aufgenommen hatte, sowie eine kleine Chipkarte, auf der sie digitalisiert waren.
»Du hättest die Gelegenheit nutzen und die Fotos entwickeln lassen können, die du geschossen hast, als ich schlief oder als ich mich am Straßenrand übergeben habe … für dein Album.«
»Stell dir vor, ich habe nicht daran gedacht«, erwiderte ich im gleichen ironischen Tonfall.
Ein seltsames Gerät erregte meine Aufmerksamkeit. Es bestand aus einem Bildschirm und einer Tastatur und war mit Schlitzen verschiedener Größe ausgestattet, in die man Chipkarten stecken konnte wie die, die der Angestellte mir eben ausgehändigt hatte. Mit ein paar Münzen konnte man seine Fotos per Internet verschicken. Im Bereich Technologie kannte Chinas Einfallsreichtum tatsächlich keine Grenzen.
Ich forderte Keira auf, mir zu folgen, und innerhalb weniger Minuten hatte ich eine E-Mail an meine Freunde Erwan auf dem Atacama-Hochplateau und Martyn in England geschickt. Darin bat ich beide, diese Bilder aufmerksam zu studieren und mir mitzuteilen, was ihnen daran auffiel und welche eventuellen
Schlüsse sie daraus ziehen würden. Keira hatte keine Fotos, die sie Jeanne hätte mailen können, und so begnügte sie sich mit einer kleinen Nachricht, in der sie vorgab, im Omo-Tal zu sein, und ihr versicherte, es gehe ihr gut, obwohl sie ihr sehr fehle.
Wir nutzten den Aufenthalt in der Stadt, um ein paar dringend nötige Einkäufe zu erledigen. Keira brauchte unbedingt Shampoo. Wir suchten eine Stunde nach der Marke, die ihr zusagte, und ich erlaubte mir die Bemerkung, das sei doch etwas viel Zeit nur für ein Shampoo. Sie erwiderte, wenn sie mich nicht am Arm gezogen hätte, wären wir jetzt noch in dem Elektronikladen!
Wir hatten genug von Gemüsebrühe und Reis und konnten nicht widerstehen, als wir vor dem Fenster eines Fastfoodrestaurants standen, in dem richtige Hamburger mit Schmelzkäse und Pommes serviert wurden. Fünfhundert Kalorien, sagte Keira und fügte gleich hinzu, es seien fünfhundert Kalorien reinen Genusses. Nach diesem Mittagessen fuhren wir auf direktem Weg zum Kloster zurück. Diesmal war unser Lama nicht in einer Meditationssitzung, er schien sogar ungeduldig auf unsere Rückkehr zu warten.
»Nun, was ist mit diesen Fotos?«, fragte er.
Ich zeigte ihm die Aufnahmen und erklärte ihm, wie wir vorgegangen waren, um die Armillarsphäre, die in den Stein geritzt war, sichtbar zu machen.
»Das ist in der Tat eine eindrucksvolle Entdeckung, die Sie da gemacht haben. Haben Sie daran gedacht, den Stein wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen?«
»Ja, wir haben ihn mit Blättern abgerieben, die so nass vom Morgentau waren wie wir.«
»Weise Entscheidung. Wie sind Sie denn auf diesen Löwen gekommen?«, wollte der Lama wissen.
»Das ist eine lange Geschichte, so lang wie diese Reise selbst.«
»Was wird Ihr nächstes Etappenziel sein?«
»Der Ort, wo sich das Pendant zu dem hier befindet«, sagte Keira und zeigte dem
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