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Am ersten Tag - Roman

Am ersten Tag - Roman

Titel: Am ersten Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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sie, »ein Einzelgänger, und unter seiner Tatze - eine Kugel.«
    Keira weinte, und ich nahm sie in die Arme.
    »Aber wovon sprichst du?«
    Sie zog einen Brief aus ihrer Tasche, faltete ihn auseinander und las mir vor: Der Löwe schläft auf dem Stein der Weisheit .
     
    Wir näherten uns der Statue. Keira beugte sich vor, um sie im Detail studieren zu können. Sie untersuchte die Kugel, auf die der Löwe, stolz wie ein Wächter, seine Tatze gelegt hatte.
    »Siehst du etwas?«
    »Feine Rillen auf der Oberfläche, nichts weiter, doch das Wesentliche entgeht mir sicher. Die Erosion hat ihn ganz zerfressen.«
    Ich sah die Sonne am Horizont untergehen. Es war zu spät, um jetzt noch den Rückweg anzutreten. Wir müssten also die Nacht hier verbringen. Der Tempel würde uns kaum Schutz vor der Kälte bieten. Er war nach allen Seiten dem Wind geöffnet, und ich fürchtete, dass wir nachts erfrieren würden. Ich ließ Keira bei ihrer Kugel und machte mich daran, unter den Kiefern Zweige und ein paar Zapfen aufzulesen, die einen kräftigen Geruch von Harz verströmten. Zurück in dem kleinen Hof, zündete ich ein Feuer an.
    »Ich bin zu müde«, sagte Keira, die sich zu mir gesellte. »Außerdem ist mir kalt«, fügte sie hinzu und rieb sich die Hände über den ersten Flammen. »Und wenn du mir jetzt sagst, dass du etwas zum Essen dabeihast, heirate ich dich auf der Stelle!«
    Ich hatte die Kekse, die mir der Lama bei unserem Aufbruch
zugesteckt hatte, sorgsam aufgehoben. Ich wartete ein Weilchen, bis ich ihr einen davon anbot.
    Wir fanden Zuflucht in einem Raum, der besser als die anderen gegen den Wind geschützt war. Unser Ausflug hatte uns dermaßen erschöpft, dass wir nicht lange brauchten, um in tiefen Schlaf zu versinken.
     
    Der Schrei eines Adlers weckte uns zu früher Morgenstunde. Wir waren völlig durchgefroren. Meine Taschen waren so leer wie unsere Mägen, quälender Durst machte sich bemerkbar. Der Rückweg wäre mindestens so gefährlich wie der Hinweg, auch wenn sich die Schwerkraft zu unseren Gunsten auswirken würde. Keira hätte die Tatze des Löwen gern angehoben, um ihm diese Kugel zu entwenden und dann in aller Ruhe zu studieren. Das steinerne Raubtier aber bewachte sie wie einen Schatz.
    Von dem Feuer war nicht mehr viel geblieben. Keira betrachtete die Asche, dann plötzlich kniete sie sich hin und begann mit einem Stein in der verbliebenen Glut zu scharren.
    »Hilf mir, nach Holzkohlestücken zu suchen, solchen, die nicht mehr glühen. Ich brauche zwei oder drei davon.«
    Sie fand eines, groß wie ein Kohlestift, und rannte zu dem Löwen. Dann begann sie den runden Stein, den die Raubkatze so erbittert verteidigte, mit dem Stift zu schwärzen. Ich sah ihr zweifelnd zu. Vandalismus war eigentlich nicht ihr Ding, ganz im Gegenteil. Was war bloß in sie gefahren, dass sie diesen so alten Stein derart verschmierte?
    »Hast du nie Spickzettel in der Schule geschrieben?«, fragte sie und sah mich an.
    Ich wollte nicht als Erster geständig werden, denn das wäre das Allerletzte angesichts der Umstände, unter denen wir uns kennengelernt hatten.

    »Heißt das, du beichtest endlich?«, fragte ich mit strengem Aufseherblick.
    »Nicht im Geringsten. Ich sprach nicht von mir.«
    »Ich kann mich nicht erinnern, gemogelt zu haben, nein. Und du glaubst doch nicht, ich würde es dir sagen, wenn ich es getan hätte?«
    »Gut, eines Tages tausche ich dieses Geständnis gegen die Liste der Dinge ein, die dir an mir gefallen. Vorerst aber nimm eins von den Kohlestücken und hilf mir, diesen Stein zu schwärzen.«
    »Was wird das, wenn es fertig ist?«
    Während Keira mit äußerster Sorgfalt den Ruß auf den Stein auftrug, sah ich plötzlich eine Reihe von Linien auftauchen. Es war wie bei den geheimen Botschaften, die wir früher in der Schule schrieben. Man musste mit der Zirkelspitze Buchstaben in ein Stück Papier ritzen und anschließend mit einem weichen Bleistift darüberfahren, um die in das Blatt geritzten Worte entziffern zu können.
    »Sieh nur«, sagte Keira aufgeregter denn je.
    Auf dem schwarzen Hintergrund sahen wir eine Reihe von Ziffern, die sich mit Linien und Punkten kreuzten. Dieser Stein, über den der Löwe so sorgsam wachte, war eine Art Armillarsphäre und zeugte von dem unglaublichen astronomischen Wissen derer, die ihn viele Jahrhunderte vor unserer Zeit erschaffen hatten.
    »Was ist das?«, fragte Keira atemlos.
    »Eine Art Globus, aber statt die Erde darzustellen, handelt es sich um

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