Am ersten Tag - Roman
dem unglaublichen Instinkt, über den Frauen verfügen, hat sie vielleicht ein- oder zweimal den Verdacht gehegt. Aber ich glaube, ich kann mich recht gut verstellen. Auf jeden Fall genügend, um nicht jeden Morgen, wenn ich an ihrem Tresen vorbeikomme, zu erröten.«
»Seit vier Jahren, Walter?«
»Achtundvierzig Monate, ich habe den Jahrestag kurz vor Ihrer Rückkehr aus Chile begangen. Aber keine Sorge, Sie haben nichts verpasst, es gab kein Fest.«
»Aber warum haben Sie ihr nie etwas gesagt?«
»Weil ich … weil ich ein Feigling bin«, erklärte Walter von einem Schluckauf unterbrochen. »Ein schrecklicher Feigling. Und soll ich Ihnen erklären, was das Erbärmlichste an der Sache ist?«
»Ich bin mir nicht sicher, nein, lieber nicht.«
»Nun, die ganze Zeit über war ich ihr treu.«
»Unglaublich!«
»Ist Ihnen klar, wie absurd das ist? Verheiratete Männer, die das Glück haben, an der Seite ihrer geliebten Partnerin zu leben, sind in der Lage, diese zu betrügen, und ich bin einer Frau treu, die nicht einmal weiß, dass ich sie anbete. Und bitte sagen Sie jetzt nicht wieder ›unglaublich‹!«
»Das hatte ich gar nicht vor. Warum gestehen Sie ihr nach der langen Zeit nicht einfach alles? Was riskieren Sie schon?«
»Damit die Romanze ein Ende hat? Sie sind wohl verrückt! Wenn sie mich abweist, könnte ich nie mehr so an sie denken. Und sie beobachten, wie ich es jetzt heimlich tue, wäre völlig taktlos. Warum sehen Sie mich so an, Adrian?«
»Nichts, ich frage mich nur, ob Sie mir, wenn Sie morgen nüchtern sind - was angesichts der Alkoholmengen, die Sie in sich hineingeschüttet haben, erst spät der Fall sein wird -, die Geschichte genauso erzählen werden.«
»Ich habe nichts erfunden, Adrian, das kann ich schwören, ich bin unsterblich verliebt in Miss Jenkins. Aber die Entfernung zwischen ihr und mir ist mit Ihrem Universum und seinen merkwürdigen Hügeln vergleichbar, die verhindern, dass man die andere Seite sieht. Miss Jenkins ist im Leuchtturm
von Kristiansand«, rief Walter und deutete gen Osten, »und ich liege wie ein gestrandetes Walross an der englischen Küste!«, fügte er hinzu und schlug mit der Faust auf den Sand.
»Walter, ich kann mir sehr gut vorstellen, was Sie mir da beschreiben, doch die Entfernung zwischen Ihrem Büro und Miss Jenkins ist in Treppenstufen und nicht in Lichtjahren zu messen.«
»Und die Relativitätstheorie, glauben Sie etwa, Ihr Kumpel Einstein hat ein Exklusivrecht darauf? Für mich ist jede dieser Stufen ebenso unerreichbar wie eine Ihrer Galaxien!«
»Ich glaube, es ist Zeit, dass ich Sie ins Hotel begleite, Walter.«
»Nein, wir werden diesen Abend fortsetzen und Sie Ihre Erklärungen. Vermutlich erinnere ich mich morgen an nichts mehr, aber was macht das schon? Wir verbringen hier eine angenehme Zeit, das ist die Hauptsache.«
Trotz seiner gutmütigen Art, die einen zum Lachen bringen konnte, tat Walter mir leid. Und ich hatte geglaubt, in der Atacama-Wüste die Einsamkeit kennengelernt zu haben … Kann man sich ein schlimmeres Exil vorstellen, als seine Tage drei Stockwerke über der Frau zu verbringen, die man liebt, ohne je die Kraft aufzubringen, es ihr zu gestehen?
»Walter, soll ich versuchen, ein gemeinsames Abendessen mit Miss Jenkins und Ihnen zu organisieren?«
»Nein, ich glaube, nach all der Zeit hätte ich nicht den Mut, es ihr zu sagen. Aber vielleicht könnten Sie doch so nett sein und mir diesen Vorschlag morgen noch einmal unterbreiten … am späten Nachmittag.«
Paris
Keira war spät dran, sie war schnell in Jeans und Pullover geschlüpft, hatte ihr Haar notdürftig in Ordnung gebracht und musste jetzt nur noch ihren Schlüssel finden. Sie hatte am Wochenende nicht viel geschlafen, und das trübe Tageslicht hatte sie nicht aufzuwecken vermocht. Morgens in Paris ein Taxi aufzutreiben, kam einem Kunststück gleich. Sie lief bis zum Boulevard Sébastopol, dann weiter in Richtung Seine und sah an jeder Ampel auf die Uhr. Ein Wagen hielt auf der Busspur neben ihr. Der Fahrer beugte sich herüber, öffnete das Fenster und rief Keira beim Vornamen.
»Soll ich dich irgendwo absetzen?«
»Max?«
»Habe ich mich seit gestern so sehr verändert?«
»Nein, aber ich habe nicht erwartet, dich hier zu treffen.«
»Keine Sorge, ich verfolge dich nicht. In diesem Viertel gibt es etliche Druckereien, und meine liegt genau hinter dir.«
»Wenn du in der Nähe deines Geschäfts bist, will ich dich nicht aufhalten.«
»Wer sagt
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